Zerfleischt - Der ultimative Thriller
sondern in ihn hineinschauten. Er konnte sie sehen, wie sie sich vor Jahren kennengelernt hatten, und er sah sie jetzt vor sich, wie er wegen ihrer dunklen Schönheit immer noch weiche Knie bekam und sein Herz raste. Er wusste nicht einmal, ob sie noch am Leben war oder ob sie als hirnloses, mordendes Tier durch die Straßen schlich. Er brauchte sie, brauchte sie wie nie zuvor, weil er sehr gut wusste, dass sie seine Stärke war. Es klang kitschig und klischeehaft, aber es war die Wahrheit. Er war nicht viel ohne sie. Er ernährte sich von ihrer Stärke und ihrem Selbstvertrauen, von dem unerschütterlichen Sinn, dass sie immer das Richtige tun musste, das Praktische. Er musste ihre Stimme hören, sie berühren, und das nicht nur, weil er sie liebte, sondern weil er sich fast sicher war, dass alles, was er getan hatte und jetzt tun würde, das Falsche war.
Macy wischte sich die Tränen aus den Augen. »Du hast gehört, was er gesagt hat. Du hast gehört, was er gesagt hat, Louis. Es ist überall. Es gibt kein Entkommen.«
»Ja, ich habe es gehört. Ich habe es genau gehört.«
»Ich habe Angst«, gab sie zu. »Ich meine, ich habe richtig Angst.«
»Ich auch …«
38
Im Shore-Haushalt in der Tessler Avenue wachte Tante Una von ihrem Nickerchen auf und fühlte, wie die erdrückende Einsamkeit ihrer über 80 Jahre in ihr heraufstieg und dabei ihre Wohnung mit ihrer Beständigkeit erdrückte. Das Gewicht war etwas Physisches wie eine Grabsteinplatte, die ihre Wohnung erdrückte, sie festhielt und sie so fühlen ließ, wie die Jahre sie auffraßen und sie zu Staub dahinschwinden ließen.
Oh Gott, oh Gott.
Sie öffnete ihre Augen und realisierte, dass, ja , sie allein war und seit vielen, vielen Jahren allein gewesen war. Sicher, es gab ihre Nichte Phyllis und deren Ehemann Benny, die Kinder … aber das schien ein allzu spärlicher Trost zu sein. Denn ihr Leben, ihr eigenes Leben, war seit Jahren leer und kümmerlich und nur jetzt in dieser dünnen, verwirrten Aufwachphase erkannte sie die Wahrheit über ihr leeres, weggeschmissenes Leben. Sie arbeitete sich durch diese Gefühle hindurch und setzte ein Lächeln auf, erzwang jetzt ein Lachen und noch eins tief aus ihrer Brust, aber alles war gefälscht.
Künstlich .
Was ihr noch blieb, war nicht mehr als ein vergilbtes Foto in einem Sammelalbum, etwas, das in schmutziger Seide eingehüllt war. Ihr Leben war nicht real, nur ein Insektenpanzer auf einem Gehsteig, vertrocknet und abblätternd, der auf einen Stiefel wartete, der ihn zerquetschte, oder auf einen Windstoß, der ihn in eine Abflussrinne blies.
Die Realität war verschwunden und sie war es inzwischen schon sehr lange.
Charles war vor 16 Jahren gestorben und ihre gemeinsamen Kinder Barbara und Lucy wohnten weit entfernt und riefen selten an. Una konnte es ihnen nicht verdenken. Warum eine Mumie in einem Museum anrufen? Warum sie an ihre langsame Auflösung in einem Glaskasten erinnern, der mit Fingerabdrücken der Lebenden verschmiert war, die ihren Verfall beobachteten?
Nein, das alles war verschwunden und sie hatte sich viel zu lange etwas vorgemacht.
Sie setzte sich in ihrem Bett auf und die Pfefferminz- und Kampferdüfte des Einreibemittels stiegen um sie herum auf. Sie fing an zu zittern und zu keuchen, während sie sich an die feuchten Laken unter ihr klammerte. Oh lieber Gott, was mache ich? Warum habe ich so etwas zugelassen? Oh, du dumme, verblendete, verrückte, alte Hexe! Dringst in ihr Leben ein, bringst Phyllis dazu dich aufzunehmen, als du nirgends sonst unterkommen konntest! Du bist nichts als ein verdammter, aussaugender Parasit, der ihr Leben und ihre Lebensfreude schröpft … siehst du das nicht?
Oh, du solltest auf dem Stadtfriedhof liegen, direkt neben Charles, unter die Erde und die Würmer füttern und das Gras unter diesen großen, im Wind knarrenden Ulmen grün sprießen lassen! So sieht’s aus, so sieht’s doch aus!
Zumindest würdest du so etwas bewirken!
Während Tränen an ihrem Gesicht herunterliefen und das Alter sich durch sie hindurchfädelte wie Risse im Fundament eines antiken Hauses, schaffte sie es aufzustehen. Sie wusste nicht, warum sie so etwas dachte, aber es war erstaunlich, dass sie vorher nie daran gedacht hatte. Die Wahrheit war ein Spiegel, der keine Lügen erzählte. Nicht über Alter oder Lebenslage oder was wirklich aus dir geworden war oder was du aus dir werden lässt.
Sie ging zum Fenster hinüber und sah Greenlawn vor sich liegen … die
Weitere Kostenlose Bücher