Zero Unit
Hinter dem hellen Kreis verlor sich das Licht im nächtlichen Dunkel.
Die Leiche des Opfers lag oben auf dem stinkenden Abfall, das lange Haar wie ein dunkler Heiligenschein um den Kopf aufgefächert. Der ehemals olivfarbene Teint wirkte im grellen Licht ungesund blass. Sie musste eine schöne Frau gewesen sein, stellte Sarah fest. Gepflegte Kleider. Gesunder Körper. Reine Haut. Das Opfer stammte eindeutig nicht aus dieser Gegend.
Jemand hatte die Leiche loswerden wollen, schlussfolgerte Sarah. »Eine verdammte Schande«, entfuhr es ihr unwillkürlich.
Während jeder Einzelne in der Ansammlung von Uniformierten, SpuSis und Gerichtsmedizinern rund um den Müllcontainer seiner jeweiligen Arbeit nachging, waren sie allesamt sorgsam darauf bedacht, sie zu ignorieren. Abgehackte Schritte hallten durch die Gasse, ehe Lieutenant Gus Harding, gerade frisch befördert und wie immer zu spät, auf sie zumarschiert kam.
»Was haben wir denn hier?«, fragte er wichtigtuerisch in die Runde. Der Lieutenant war ein großer Freund von Krimiserien und ahmte, wann immer ihm sich die Gelegenheit dazu bot, das schroffe Auftreten der Vorabendschauspieler nach. Als ob ihn das kompetenter oder durchsetzungsfähiger machen würde. Oder größer .
Wie zu erwarten war, ergriff Jonesy – Detective Jonas Louden, wegen seiner nervigen Angewohnheit, poltrig laut zu sprechen auch das Großmaul genannt – das Wort. Er zückte seinen abgegriffenen, in Leder gefassten Notizblock und legte los, ehe Sarah auch nur den Mund öffnen konnte. »Weiblich, zwischen fünfundzwanzig und fünfunddreißig Jahre alt. Wahrscheinlich italienischer Herkunft, bei dem schwarzen Haar«, verkündete Jonesy bestimmt.
»Oder auch spanischer oder indischer Herkunft, vielleicht sogar aus dem Nahen Osten … «, murmelte Sarah vor sich hin. Zum Kuckuck, alle möglichen Nationalitäten kamen infrage. Sie befanden sich schließlich im Schmelztiegel Amerika. Aber Detective Jonesy ging bereits auf die Rente zu und war einer Vergangenheit zugeneigt, in der »ethnisch« noch gleichbedeutend mit irischer, italienischer oder jüdischer Abstammung gewesen war.
Lieutenant Harding warf Sarah einen abschätzigen Blick zu. Bei ihr war die Rente noch weit hin, denn sie war gerade erst fünfundvierzig geworden, aber dem Grünschnabel von Lieutenant hatte sie trotzdem gute zehn Jahre voraus.
Aber darüber wollte sie jetzt nicht nachdenken.
Harding wandte sich wieder an Jonesy. »Hat sie einen Ausweis bei sich?«
»Nein«, antwortete Jonesy. »Nichts. Sie hatte gar nichts bei sich. Bis auf die Kleider, die sie am Körper trägt.«
Harding schaute erneut über den verdreckten Rand des Müllcontainers und direkt auf den Laborassistenten der Gerichtsmedizin hinunter, der sich einen Ganzkörper-Plastikoverall übergezogen hatte, um sich beim Abtauchen in all den Unrat nicht die Designerklamotten und seine schicken Halbschuhe schmutzig zu machen. Zumindest war er ohne den geringsten Protest hineingeklettert.
»Todesursache?«, fragte Harding den jungen Mann.
»Nicht eindeutig bestimmbar«, antwortete A.M.E. Dr. John Stroud und schaute mit seinen jugendlichen blauen Augen aus dem Dreck zu ihm auf. Himmel. Der konnte nicht viel älter als zwölf sein. Wieso waren urplötzlich alle Menschen um Sarah herum jünger als sie? »Keine Blutspuren. Keine Wunden«, sagte er. »Auch nichts, das auf ein inneres Trauma hindeuten würde.«
Sarah zwang sich, sich wieder auf den Fall zu konzentrieren. Okay, das war interessant. Bei einer auf diese Weise entsorgten Leiche war die Todesursache meist klar erkennbar. Einschüsse. Eine Messerwunde. Schläge. Vergewaltigung.
»Und der Todeszeitpunkt?«, fragte der Lieutenant.
Als Dr. Stroud sein Thermometer aus der Leber des Opfers zog und die Temperatur ablas, wandte Sarah den Blick ab. Er rechnete kurz nach. »Noch nicht lange her. Vielleicht zwei bis vier Stunden, würde ich vorläufig schätzen.«
Sarah blickte auf ihre Armbanduhr. Kurz nach zehn. Damit lag der Todeszeitpunkt irgendwo zwischen sechs und acht Uhr abends.
Der Lieutenant grunzte. »Wann können Sie mir den Autopsiebericht liefern?«
»Wir hinken ein klein wenig hinterher«, sagte Stroud. »Also frühestens morgen Nachmittag.«
Als Harding sich Sarah zuwandte, trug sein rundliches Gesicht einen geheuchelt freundlichen Ausdruck: »McPhee, ich hätte Sie gerne dabei.«
Ihr wurde schlecht. Das war ganz offensichtlich eine Herausforderung. Nein. Eigentlich eher eine herablassend
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