ZeroZeroZero: Wie Kokain die Welt beherrscht
aber behalte die Regeln deines Landes bei. Die althergebrachten Regeln, die dir helfen, in der modernen Welt zurechtzukommen, ohne dich zu verlieren. Diese Regeln erlauben es den italienischen Organisationen, mit den südamerikanischen Narcos und den mexikanischen Kartellen auf Augenhöhe zu verhandeln und tonnenweise Drogen per Handschlag zu kaufen.
Die Manager des Drogenhandels haben den Schäferumhang des kalabrischen Aspromonte abgelegt und erobern den Drogenmarkt mit ihren unbegrenzten Geldmitteln. Aber die Regeln des Aspromonte, die Regeln des Bluts und der Heimat, bilden immer noch ihr moralisches Grundgerüst, ihre Anleitung zum Handeln. Allerdings kennen sie mittlerweile auch die Regeln der Wirtschaft und wissen sich in der Welt zu bewegen, was unerlässlich ist, um sich Jahresumsätze in Milliardenhöhe zu sichern. Deshalb ist es schwierig, die Männer zu beschreiben, die den weltweiten Drogenhandel beherrschen.
Drehbuchschreiber machen aus ihnen schillernde Figuren zwischen Nadelstreifenanzug und Dialekt, zwischen Marmorpalästen und Gosse, mit faszinierender Ambiguität und verstörenden Widersprüchen. In der Realität ist das Bürgertum des Drogenhandels im Allgemeinen solider und unbeschwerter als die durchschnittliche Industriellenfamilie. Mafiafamilien sind es gewohnt, die Reihen zu schließen, Rückschläge zu verkraften und entsprechend zu reagieren. Fern von Heimat und Familie zu sein ist der Normalfall. Zu decken und zu verbergen, was niemand wissen darf, ergibt sich nicht aus unsicheren Konventionen des Anstands, sondern ist pure Notwendigkeit. Dass sie Schmerz, Verlust und Verrat ertragen können, macht sie stark. Sie machen keinen Hehl daraus, dass Grausamkeit zum Leben in dieser Welt dazugehört, und dass sie gewinnen wollen. Alles gewinnen wollen.
Wenn ich mich frage, wer den Archetyp des Kokainmanagers am besten verkörpert, fallen mir zwei Namen ein, die gewissermaßen die Pole eines magnetischen Feldes bilden. Norden und Süden. Der Mann des Nordens ist der Prototyp des Selfmade-Unternehmers, der sich nur auf die eigene Kraft und den eigenen Geschäftssinn verlässt. Der Mann des Südens ist ein Bewohner der Hauptstadt, der die Chance wittert, die gesicherte Existenz als Angestellter eines großen Staatsbetriebs hinter sich zu lassen, und sie ergreift. Politische und moralische Erwägungen sind ihnen fremd. Sie geben sich demokratisch und nonkonformistisch oder auch streng konservativ, je nachdem, was ihnen opportun erscheint. Geschäftsmänner, denen es gelingt, Menschen mit festen moralischen Grundsätzen in Versuchung zu führen, indem sie winzige Risse und kaum wahrnehmbare Schwächen ausnutzen. Sie korrumpieren, ohne dass sich ihr Opfer korrupt fühlt, und lassen die Korruption als
Lappalie erscheinen, als gängige Praxis, die kaum ins Gewicht fällt.
Der Mann des Nordens vermittelt in erster Linie Solidität und Entschlossenheit, der Mann des Südens tritt eleganter und weltläufiger auf, doch beide geben sich als Herren mittleren Alters von durchschnittlichem Wohlstand. Unauffällig, ja fast ein wenig lächerlich sind auch die Namen, unter denen sie auftreten: Bebe und Mario.
Der jüngere kam vor einundsechzig Jahren in dem lombardischen Dorf Almenno San Bartolomeo zur Welt. Bergamo liegt nicht weit entfernt, aber noch schneller hat man den Fluss Brembo zur Val Brembana überquert, einem Tal, das selbst für die Bewohner der Lombardei provinzielle Rückständigkeit verkörpert. Seine Taufnamen sind Pasquale, vermutlich zur Erinnerung an einen Großvater aus Brindisi, und Claudio, was moderner klingt. Mit Nachnamen heißt er Locatelli, wie mehr oder weniger alle in der Gegend. Später nennt er sich Mario, auch wieder ein Allerweltsname.
Pasquale Locatelli ist zwanzig, als er sich mit Ausflügen in die reiche Lombardei zwischen Mailand und Verona die Sporen verdient, indem er Autos der oberen Mittelklasse klaut. Dabei arbeitet er mit Leuten aus Mailand zusammen, die in der ligera groß geworden sind, dem alten kriminellen Milieu, dessen Lieder im Dialekt nach wie vor äußerst populär sind. Dennoch gehören die Bar del Giambellino und der Palo della Banda dell’Ortica inzwischen einer nostalgischen Vergangenheit an. Die Stadt war damals zum Kriegsgebiet geworden, Terrorismus und gewöhnliche Kriminalität gingen ineinander über und verflochten sich manchmal, bewaffnete Raubüberfälle und Entführungen waren an der Tagesordnung. Im Durchschnitt geschah alle zwei Tage ein
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