ZeroZeroZero: Wie Kokain die Welt beherrscht
Fausthiebe, Fußtritte, Ohrfeigen und Knieschläge, nach denen der Kandidat häufig bewusstlos liegen bleibt. Die Mädchen müssen eine Gruppenvergewaltigung über sich ergehen lassen. Die Neulinge werden immer jünger, und für sie gibt es nur eine Lebensregel: die Gang oder der Tod.
Christian Poveda wollte einen Film über die Maras drehen.
Er wollte sie verstehen, mit ihnen leben und herausfinden, warum Zwölfjährige zu Mördern werden und bereit sind, so jung zu sterben. Und sie nahmen ihn auf. Als hätten sie endlich denjenigen gefunden, der ihre Geschichte erzählen konnte. »Warum ist er nicht zu Hause geblieben?« »Was hat er davon?« »Denkt er denn gar nicht an seine Familie?« Irgendwann fallen solche Fragen ins Leere, sie sind so lästig wie Mückenstiche. Es juckt ein bisschen, das ist alles.
Sechzehn Monate dauerten die Dreharbeiten für La vida loca. Fast eineinhalb Jahre lang folgt Christian den kriminellen Banden auf der Suche nach einer Antwort auf seine Fragen. Er wohnt den Initiationsriten bei, studiert die Tätowierungen auf den Gesichtern der Mitglieder und ist dabei, wenn Männer und Frauen der Gangs sich mit Crack und Kokain vollpumpen,
während sie einen Mord organisieren oder am Begräbnis eines Freundes teilnehmen. Jede Mara eines jeden Landes geht anders vor. »Es ist ein Unterschied«, sagt Christian, »ob man Drogen auf dem zentralen Markt von San Salvador verkauft oder auf dem Sunset Boulevard in Los Angeles.« Ihr Leben besteht aus Schießereien, Morden, Vergeltungsmaßnahmen, Polizeikontrollen, Begräbnissen und Gefängnisaufenthalten. Christian beschreibt es ohne Sensationslust. Er erzählt von »The Little One«, einer neunzehnjährigen Mutter mit einer riesigen »18«, die von den Augenbrauen bis zum Kinn auf ihr Gesicht tätowiert ist. Er erzählt von Moreno, fünfundzwanzig Jahre alt, der ein anderes Leben will und angefangen hat, in einer Bäckerei zu arbeiten, die von der gemeinnützigen Organisation Homies Unidos eingerichtet wurde. Doch die Bäckerei schließt, als ihr Besitzer wegen Mordes verhaftet und zu sechzehn Jahren Haft verurteilt wird. Er erzählt von »der Zauberin«, einer weiteren jungen Mutter, die Gangmitglied ist und bei einem Kampf ein Auge verloren hat. Christian begleitet sie zu den Untersuchungen und der Operation, wo ihr ein Glasauge eingesetzt wird. Die Operation ist allerdings unnötig, denn die »Zauberin« wird noch vor Ende der Dreharbeiten erschossen: nur eines von vielen Mitgliedern der Mara 18, die vor Abschluss des Films ihr Leben verlieren.
»Ein Spinner!« »Leichtsinnig!« »Ruchlos!« In den Wind gesprochene Worte, denen Christian Poveda andere entgegenhält. »Die meisten Mitglieder der Maras sind Opfer der Gesellschaft, unserer Gesellschaft«, sagt er. Denn für die Gesellschaft und den Staat ist es leichter, mit dem Finger auf diese Gewalt zu zeigen, als Chancen anzubieten. Es ist leicht, die Gangmitglieder als Abschaum, als Dreck zu betrachten, denn sie wirken abstoßend. Es ist einfach, sie als Feinde der Gesellschaft
abzustempeln. Man unterschätzt sie leicht. Aber alle diese Urteile kann Poveda mit seiner Arbeit entkräften.
Darin liegt letztlich deren Sinn. Hinter der Fassade der Gewalt hat er einen beschwerlichen Weg entdeckt, der direkt zur Wurzel des Problems führt. Um seinen Namen in der Zeitung oder im Vorspann eines Dokumentarfilms zu lesen, hätte es genügt, das Übel zu dokumentieren und ein paar Spekulationen anzustellen. Aber Christian will der Sache auf den Grund gehen. Er will wirklich begreifen.
Am 2. September 2009 wird seine Leiche auf der Landstraße zwischen Soyapango und Tonacatepeque nördlich von El Sal-vadors Hauptstadt neben seinem Auto gefunden, mit vier Schüssen im Kopf. Die teure Kamera, die er kurz zuvor noch für Aufnahmen benutzt hat, liegt unangetastet neben ihm. »Ich hab’s doch gesagt.« »Er hat gekriegt, was er verdient hat.« »Er hat es aber auch wirklich übertrieben.« Die üblichen Stimmen.
Wegen Mordes an Christian Poveda wurden 2011 elf Personen verhaftet und verurteilt, allesamt Mitglieder der Mara 18. Luis Roberto Vasquez Romero und Jose Alejandro Melara wurden als die Drahtzieher zu dreißig Jahren verurteilt, ein anderer zu zwanzig Jahren, weil er den Mord ausgeführt hatte. Weitere Mitglieder der Gang müssen vier Jahre Haft absitzen, weil sie das Verbrechen gedeckt haben.
Christian war sicher, nichts zu riskieren. Er war in das Bindegewebe der Maras, in ihr Leben
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