ZeroZeroZero: Wie Kokain die Welt beherrscht
Nachforschung zu den Fakten, die Bladimir aufgedeckt hatte. Heute ist der investigat-ive Journalismus in Durango tot, gestorben mit Bladimir An-tuna Garda.
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Ich habe in den Abgrund geblickt und bin zu einem Ungeheuer geworden. Es musste so kommen. Mit der einen Hand berührst du den Ursprung der Gewalt, mit der anderen streifst du die Wurzeln der Grausamkeit. Mit einem Auge schaust du auf die Fundamente der Großbauten, mit einem Ohr lauschst du dem Pulsieren der Finanzströme. Anfangs ist es nur ein dunkles Gewirr. Du kannst nichts erkennen, nimmst nur ein Wimmeln unter der Oberfläche wahr, etwas, das nach oben drängt. Dann nimmt es Gestalt an, aber immer noch diffus, embryonal, uneindeutig. Du beugst dich vor, nimmst alle deine Sinne zusammen und blickst in den Abgrund. Die Chronologie der Macht bekommt einen Sinn, das Blut, das zuvor über tausend Rinnsale verteilt war, bildet einen Strom, das Geld hört auf zu fließen, setzt sich am Boden ab, und du kannst es zählen. Du beugst dich ein bisschen weiter vor, hebst ein Bein an, jetzt schwebst du fast über dem Abgrund. Und dann ... Dunkelheit. Wie am Anfang, aber diesmal gibt es kein Gewusel, da ist nur eine glatte und glänzende pechschwarze Oberfläche. Dir wird klar, dass du auf der anderen Seite bist und dass jetzt der Abgrund in dich hineinschauen will. Er will wühlen, peinigen, verschlingen. Der Abgrund des Drogenhandels, der in dich hineinschaut, ist nicht das letztlich beruhigende Ritual der Entrüstung. Er ist nicht die Angst, dass nichts mehr einen Sinn hat. Das wäre zu einfach. Es wäre zu leicht zu sagen, du hast ein Ziel gefunden, jetzt brauchst du nur noch zuzuschlagen und die
Situation wieder ins Lot zu bringen. Der Abgrund des Drogenhandels gibt den Blick frei auf eine funktionierende, effiziente Welt, die bestimmten Regeln folgt. Eine Welt, die einen Sinn hat. Und plötzlich weißt du nicht mehr, wem du noch trauen kannst. Die Medien, deine Familie, deine Freunde: alle erzählen von einer Wirklichkeit, die für dich falsch ist. Langsam wird dir alles fremd, und deine Welt bevölkert sich mit neuen Akteuren. Mit Bossen, Gemetzeln, Gerichtsprozessen. Mit Massakern, Folterungen, Kartellen. Mit Dividenden, Aktien, Banken. Mit Verrat, Verdächtigungen, Denunziationen. Mit Kokain. Du kennst nur diese Akteure, und sie kennen dich, aber das bedeutet nicht, dass deine frühere Welt verschwunden ist. Nein. Du lebst weiter in ihr. Du tust genau dasselbe wie früher, doch die Fragen, die du dir jetzt stellst, steigen aus dem Abgrund auf. Der Unternehmer, der Professor, der leitende Angestellte. Der Student, der Milchmann, der Polizist. Der Freund, der Verwandte, die Freundin. Kommen auch sie aus dem Abgrund? Und selbst wenn sie ehrlich sind, wie viel Ähnlichkeit haben sie mit dem Abgrund? Du hegst nicht den Verdacht, dass sie alle korrupt oder mafiös sind, es ist viel schlimmer. Du hast dem ins Auge geblickt, was der Mensch ist, und siehst überall Ähnlichkeiten zu dem Abschaum, den du kennst. Du siehst bei allen die dunkle Seite.
Ich bin ein Ungeheuer geworden.
Wenn alles um dich herum von solchen Überlegungen erfasst wird. Wenn du alles in das Sinn-Universum eingliederst, das du bei der Beobachtung der Mächte des Drogenhandels aufgebaut hast. Wenn alles nur noch auf der anderen Seite Sinn zu haben scheint, der Seite des Abgrunds: Wenn es so ist, dann bist du ein Ungeheuer geworden. Du schreist, flüsterst, rufst deine Wahrheiten hinaus, weil du Angst hast, dass sie sich
verflüchtigen. Und all das, was du immer als Glück betrachtet hast - spazieren zu gehen, mit jemandem zu schlafen, bei einem Konzert in der ersten Reihe zu sitzen oder zu schwimmen -, wird überflüssig, nebensächlich. Nicht mehr so wichtig, belanglos. Jede Stunde, in der du nicht all deine Energien mobilisierst, um aufzudecken, zu entlarven und zu erzählen, erscheint dir verlorene Zeit. Du hast all diese Opfer gebracht, nicht nur um den Abgrund zu verstehen, sondern auch um ihn zu zeigen, vorzuführen und zu beschreiben. War es das wert? Nein. Es lohnt sich nie, auf einen Weg zu verzichten, der zum Glück führt, und wenn dieses Glück noch so klein ist. Es lohnt sich nie, obwohl du glaubst, das Opfer werde durch die Geschichte, die Ethik, die anerkennenden Blicke aufgewogen. Das ist nur ein kurzer Moment. Das einzig mögliche Opfer ist eines, das keine Belohnung erwartet. Ich wollte kein Opfer, ich wollte keine Belohnung. Ich wollte verstehen, schreiben, erzählen,
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