ZeroZeroZero: Wie Kokain die Welt beherrscht
des
ketzerischen Heiligen, des Schuldigen, wenn er isst, des Scheinheiligen, wenn er hungert, des Heuchlers, wenn er sich enthält. Ich bin ein Ungeheuer, so wie jeder ein Ungeheuer ist, der sich für etwas opfert, was er als einen höheren Wert ansieht. Doch ich bewahre noch Achtung. Achtung für den, der liest. Für den, der sich Zeit nimmt, Lebenszeit, um ein neues Leben aufzubauen. Nichts besitzt mehr Macht als das Lesen, nichts ist verlogener als die Behauptung, ein Buch zu lesen sei eine passive Tätigkeit. Lesen, hören, lernen, verstehen ist die einzige Art, Leben über das Leben hinaus zu schaffen, Leben neben dem Leben. Lesen ist gefährlich, weil es den Worten Form, Gestalt und Substanz verleiht und für ihre Verbreitung sorgt. Es stellt alles auf den Kopf, lässt aus den Taschen der Welt Münzen, Scheine und Pulver rieseln. Den Drogenhandel zu kennen, das Verhältnis zwischen der Rationalität des Bösen und des Geldes zu kennen, den Schleier zu zerreißen, der das vermeintliche Bewusstsein von der Welt abstumpfen lässt. Wissen ist der Beginn einer Veränderung. Den Menschen, die diese Geschichten nicht wegwerfen und übergehen, sondern sie sich zu eigen machen, gilt meine Achtung. Wer die Worte spürt, wer sie sich auf die Haut ritzt, wer sich einen neuen Wortschatz zulegt, verändert den Lauf der Welt, weil er verstanden hat, wie er auf dieser Welt zu sein hat. Es ist, als würde man Ketten sprengen. Worte sind Handlung, sie sind Bindegewebe. Nur wer diese Geschichten kennt, kann sich vor ihnen schützen. Nur wer sie seinem Kind, seinem Freund, seinem Mann erzählt, nur wer sie in den öffentlichen Raum trägt, in die Salons und in die Klassenzimmer, artikuliert eine Möglichkeit des Widerstands. Wer allein am Abgrund steht, ist wie in einem Käfig, aber wenn viele sich dafür entscheiden, an den Abgrund zu treten, dann
verschwinden die Gitterstäbe dieser Zelle. Und eine Zelle ohne Gitterstäbe ist keine Zelle mehr.
In der Offenbarung des Johannes heißt es: »Und ich nahm das Büchlein von der Hand des Engels und verschlang es, und es war süß in meinem Munde wie Honig, und da ich’s gegessen hatte, grimmte mich’s im Bauch.« Ich glaube, das sollten die Leser mit den Worten tun. Sie in den Mund nehmen, kauen, zermahlen und schließlich hinunterschlucken, damit die Chemie, aus denen sie bestehen, ihre Wirkung entfaltet, das unerträgliche Dunkel der Nacht erhellt und die Linie zieht, die das Glück vom Schmerz trennt.
Du empfindest eine Leere, wenn deine Worte durch die Bedrohung, die sie auf sich ziehen, aufgewertet werden, als fände alles, was du sagst, nur deshalb Gehör, weil es dir den Tod bringen kann. Aber es ist doch so: Ein Stillschweigen über diese Themen gibt es nicht. Es herrscht ein Stimmengewirr: Agenturmeldungen, Gerichtsprozesse, die Verhaftung eines Drogenbosses. Alles geht seinen natürlichen Gang. Und wenn alles seinen natürlichen Gang geht, bemerkt es keiner mehr. Und so schreiben manche: Durch das Schreiben stirbt er, wird er bedroht, strauchelt er. Wenn die Drohung kommt, scheint es, als würde ein Teil der Welt eine Zeitlang aufhorchen und merken, was geschrieben wurde. Dann gerät es wieder in Vergessenheit. In Wahrheit gibt es keine Alternative. Kokain ist Treibstoff. Kokain ist zerstörerische, fürchterliche, tödliche Energie. Die Verhaftungen reichen nie aus. Die Strategien der Bekämpfung verfehlen offenbar immer ihr Ziel. So fürchterlich es klingen mag, die völlige Legalisierung der Drogen könnte die einzige Antwort sein. Eine schreckliche, entsetzliche, abscheuliche, beängstigende Antwort, mag sein. Aber die einzig mögliche, um alles zum Stillstand zu bringen. Um die immer größer
werdenden Umsätze zu stoppen. Um den Krieg zu stoppen. Zumindest ist es die einzige Antwort, auf die man kommt, wenn man sich am Ende die Frage stellt: Und was nun?
Seit Jahren lasse ich mich tagtäglich von den Stimmen überwältigen. Von den Stimmen derer, die lautstark rufen, der Alkohol fordere die weitaus meisten Opfer. Es sind schrille und einhämmernde Stimmen, die mitunter von anderen Stimmen zum Schweigen gebracht werden, die sich anmaßend erheben und behaupten, Alkohol tue zwar nicht gut, aber nur, wenn man es übertreibt, wenn der Bierkrug vom Samstagabend zur Gewohnheit wird, und es gebe einen Riesenunterschied zum Kokain. Dann hebt der Chor derer an, die denken, die Legalisierung sei das kleinere Übel; schließlich lasse legalisiertes Kokain auch eine
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