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ZeroZeroZero: Wie Kokain die Welt beherrscht

ZeroZeroZero: Wie Kokain die Welt beherrscht

Titel: ZeroZeroZero: Wie Kokain die Welt beherrscht Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Roberto Saviano
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damit alle davon erfahren. Wollte von Tür zu Tür gehen, von Haus zu Haus, zu nachtschlafender Stunde und frühmorgens, um die Geschichten mit allen zu teilen und die Wunden offenzulegen. Stolz darauf, den richtigen Ton getroffen und die richtigen Worte gewählt zu haben. Das wollte ich. Doch die offene Wunde dieser Geschichten hat mich verschluckt.
    Für mich ist es zu spät. Ich hätte Distanz halten müssen, die ich nicht zu wahren vermochte. Angelsächsische Journalisten sagen das oft: sich nicht hineinziehen lassen, einen klaren Blick auf den Gegenstand behalten. Das war bei mir nie der Fall. Für mich ist es umgekehrt. Genau umgekehrt. Mein Blick ist unmittelbar, nah, infiziert. Ich bin kein Chronist der Fakten, sondern der eigenen Seele. Um die Dinge, die ich sehe, der Seele einzuprägen: einen tiefen Abdruck, wie man ihn in einer Knetmasse hinterlässt. Aber einen Abdruck, der sich wieder
    entfernen lässt, wenn man das Plastilin zusammenpresst. Am Ende ist die eigene Seele eine Masse, die tausenderlei Gestalt hätte annehmen können, jedoch völlig formlos geblieben ist.
    Wenn man die Geschichten des Drogenhandels verfolgt, fängt man an, in den Gesichtern der Menschen zu lesen. Man bildet sich ein, sie zu kennen. Man lernt, ob jemand als Kind Zuneigung erfahren hat, ob er geliebt und umsorgt wurde, ob er jemanden an seiner Seite hatte oder ob er sich immer feige verdrücken musste. Man versteht sofort, was er für ein Leben hatte. Ob er isoliert war, ob er geschlagen oder auf die Straße gesetzt wurde. Oder ob er verwöhnt wurde, bis er im Wohlstand verrottete. Man lernt abzuschätzen, aber das Böse vom Guten zu unterscheiden, das lernt man nicht. Du weißt nicht, wer dich reinlegt oder wer dir deine Seele klaut, wer dich belügt, um ein Interview zu bekommen, oder wer dir das erzählt, von dem er meint, dass du es hören willst, um dir zu schmeicheln und in deinen Worten verewigt zu werden. Eine Gewissheit trage ich ohne allzu selbstgefällige Wehmut in mir: Niemand tritt an dich heran, wenn er sich nicht etwas von dir verspricht. Ein Lächeln ist eine Methode, um deine Abwehr zu durchbrechen, eine Annäherung, um Geld von dir zu erpressen, eine Geschichte, die man beim Abendessen erzählen kann, oder ein Foto, das man jemandem wie einen Skalp präsentieren kann. Letztlich denkst du dann wie ein Mafioso. Du machst die Paranoia zu deiner Richtschnur und dankst denen im Abgrund dafür, dass sie dir beigebracht haben, misstrauisch zu sein. Loyalität und Vertrauen werden zu unbekannten, verdächtigen Begriffen. Du bist umgeben von Feinden oder Nutznießern. So sieht heute mein Leben aus. Dazu kann ich mir selber gratulieren.
    Das, woran ich zu Beginn dieser Wegstrecke glaubte, ist zu einfach: »Statt Liebe, Geld und Ruhm gebt mir Wahrheit«, wie es Henry David Thoreau ausdrückte. Ich bildete mir ein, wenn ich diesen Wegen und diesen Strömen folge, auf all diesen Kontinenten, wenn ich in den Schmutz hineinwate, könnte ich der Wahrheit auf die Spur kommen: auf alles verzichten, um zur Wahrheit zu gelangen. Aber so läuft es nicht, Thoreau. Man findet sie nicht, die Wahrheit. Je mehr du glaubst, verstanden zu haben, wie die Märkte sich verhalten, je mehr du den Motiven derer nachspürst, die verantwortlich sind für Bestechungen von Leuten, die dir nahestehen, für Restauranteröffnungen und Bankenschließungen, und die bereit sind, für Geld zu sterben - je mehr du die Mechanismen verstehst, desto klarer wird dir, dass du einen ganz anderen Weg hättest einschlagen sollen. Aus diesem Grund habe ich keine besondere Achtung vor mir, der ich recherchiere, Notizen mache, Hefte fülle und den Beigeschmack gewisser Dinge in meinem Gedächtnis aufbewahre. Ich habe keine besondere Achtung vor mir am Ende eines Weges, der es nicht vermocht hat, mir Glück zu geben und es mit anderen zu teilen. Und vielleicht ist mir das nicht einmal bewusst. Ich weiß nur, dass ich nicht anders konnte.
    Und wenn ich es anders gemacht hätte? Wenn ich mich für den geradlinigen Weg der Kunst entschieden hätte? Für ein Leben als Schriftsteller, das manche als unverfälscht bezeichnen würden, mit seinem Missmut, seinen Psychosen, seiner Normalität. Erzähle Geschichten, die auf Eingebung beruhen. Schlage dich mit dem Stil und dem Plot herum. Ich war dazu nicht in der Lage. Mir ist das Leben des Flüchtlings zugefallen, des Geschichtenerzählers am laufenden Band, des Multiplikators von Geschichten. Das Leben des Geschützten,

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