ZeroZeroZero: Wie Kokain die Welt beherrscht
Warsaw, Virginia, geführt. Nicht nur die US-amerikanische, auch die kolumbianische Justiz wird ihn zur Rechenschaft ziehen. Wahrscheinlich wird er den Rest seines Lebens im Gefängnis verbringen.
El Mono ist tot. Das Kokain lebt.
9 Der Baum ist die Welt
Der Baum ist die Welt. Der Baum ist die Gesellschaft. Der Baum ist die Genealogie von Familien, die durch dynastische, mit Blut besiegelte Bande miteinander verknüpft sind. Der Baum ist die Formation, zu der die börsennotierten Unternehmensgruppen mit ihren vielen Verästelungen tendieren. Der Baum ist die Wissenschaft.
Der Baum ist aber auch ein echter Baum. Nach der mythischen Überlieferung ist er eine Eiche auf der Insel Favignana. Doch was ich fand war eine Kastanie von saftigem lebendigen Grün, auch wenn ihr gewaltiger grauer, rissiger Stamm ausgehöhlt ist wie eine Grotte. In manchen Jahren beherbergt diese natürliche Grotte eine Krippe mit den Heiligen Drei Königen aus dem Morgenland und dem Erzengel Gabriel, der die Szenerie von oben überwacht, auf einer Wurzel sitzend, die wie ein Balken aussieht. In all den Jahrhunderten, wenn über dem Berg tosende Stürme wüteten, bot der Baum den Schafen, Hunden und Eseln Schutz, die zumindest mit den Vorderbeinen und dem Kopf dort Unterschlupf fanden. Aber auch den Menschen: den Hirten, Jägern und Wegelagerern. Daran dachte ich, als ich mich in der Grotte zusammenkauerte und den Geruch von Moos und Erde, Harz und Feuchtigkeit aufnahm. Der Baum steht seit Urzeiten hier in dieser Schlucht am Gebirgskamm des Aspromonte. Die Menschen kamen später und eigneten sich seine Bedeutung und seine Form an. Ein schlichter Baum, möchte man meinen, ist es aber keineswegs.
Der Baum der ’Ndrangheta umspannt fast die ganze Welt. Diese Feststellung dürfte eigentlich keinen Anstoß mehr erregen, kein Naserümpfen und keine ungläubigen oder gleichgültigen Mienen hervorrufen und auch nicht den Verdacht wecken, dass der Warnende den Wolf als viel zu bedrohlich schildert und in viel zu düsteren Farben malt, denn oft ist der Wolf der Landsmann dessen, der ihn jagt, ein Wolf aus dem kalabrischen Aspromonte. Hier und heute. Doch dieses Heute begann erst vor wenigen Jahren und lässt sich an drei Ereignissen festmachen. 2007: das Massaker am 15. August im Ristor-ante Da Bruno in Duisburg, Teil einer seit dem Karneval 1991 schwelenden Fehde zwischen den Mafiafamilien von San Luca. 2008: Aufnahme der ’Ndrangheta in die Liste der Narcotics Kingpin Organizations des Weißen Hauses, der Drogenhandelsorganisationen, die die Sicherheit der Vereinigten Staaten bedrohen und deren Vermögenswerte sofort eingefroren werden. 2010: die Operation Crimine-Infinito der Antimafia-Staatsanwaltschaften Mailand und Reggio Calabria. Mehr als dreihundert Verhaftungen. Verbreitung des Videos von einem Treffen im Circolo Giovanni Falcone e Paolo Borsellino in Paderno Dugnano, Provinz Mailand, das die kalabrische Vorherrschaft in Norditalien dokumentiert, und eines weiteren, aufgenommen im Marienwallfahrtsort Madonna di Polsi im As-promonte, das die streng hierarchische Struktur der Organisation belegt.
Doch nicht einmal das hat gereicht. Eines Tages konnte ich beim Durchblättern der Zeitungen ein bitteres Lachen nicht unterdrücken, als ich - keineswegs überrascht - entdeckte, dass ich zur Zielscheibe eines schlechten Scherzes geworden war. »Gib auch du deine Unterschrift gegen Saviano, der Norditalien als mafiös bezeichnet.« Das war Mitte November 2010. Eine Woche zuvor hatte ich öffentlich darüber gesprochen, dass die ’Ndrangheta mittlerweile auch in Norditalien Fuß gefasst hat, und Dokumente gezeigt und kommentiert, die der Öffentlichkeit schon seit vier Monaten zugänglich waren. Keine Taubheit ist schlimmer als die Taubheit dessen, der nicht hören will, dachte ich. Ich stellte mir vor, dass auch die kalabrischen Bosse dieses Sprichwort hätten zitieren können, als Bestätigung dafür, dass alles so weitergeht wie bisher, glatt und reibungslos.
Die ’Ndrangheta verdankt ihren Aufstieg ebenso sehr den Versäumnissen anderer wie ihren eigenen Verdiensten. Mit am wichtigsten war ihre Fähigkeit, ihre Expansion so gut wie möglich zu verschleiern. Nie wurde die ganze Krone sichtbar und schon gar nicht das Wurzelgeflecht des Baums bis in seine feinsten Verästelungen. Bis schließlich der Baum selbst zu groß wurde, um mit einem Blick erfasst zu werden. Mehr als zehn Jahre lang war die Organisation sogar in Italien von der
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