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ZeroZeroZero: Wie Kokain die Welt beherrscht

ZeroZeroZero: Wie Kokain die Welt beherrscht

Titel: ZeroZeroZero: Wie Kokain die Welt beherrscht Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Roberto Saviano
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Bildfläche verschwunden. Es schien, als habe der Staat an allen Fronten gesiegt: den Terrorismus vernichtet, der sizilianischen Mafia nach den blutigen Bombenanschlägen das Genick gebrochen und mit militärischer Gewalt nicht nur Sizilien erobert, sondern auch Kampanien, Apulien und Kalabrien. Die Ermordung Antonino Scopellitis, der den Maxi-Prozess gegen die Cosa Nostra führte, in Kalabrien nährte jedoch ein gefährliches Missverständnis. Der Mord galt als weiterer Beweis für die Unterlegenheit der Kalabresen gegenüber den Sizilianern. Die ’Ndrangheta blieb im kollektiven Bewusstsein weiterhin gesichtslos oder wurde mit der Anonima Sarda verwechselt, Banden von Hirten, die ihre Geiseln im Aspromonte oder im Gennargentu verschleppten, sie schlimmer behandelten als Tiere und ihnen die Ohren abschnitten, um Lösegeld zu erpressen. Dabei waren sie selbst Bestien, die in einem destabilisierten Land, das in den siebziger Jahren viele blutige Massaker erlebt hatte, eine weitere Spur des Terrors zogen. Das war jedoch nur möglich, weil sie hoffnungslos rückständige Territorien beherrschten. Dieses Bild war so fest verankert, dass es sich durch keine neuen Erkenntnisse erschüttern ließ.
    Auch das kam der ’Ndrangheta nur gelegen. Mit dem neuen Gesetz zur Konfiszierung von Gütern und Vermögenswerten war die Organisation der Sarden zerschlagen worden, und man glaubte, auch die Kalabresen seien besiegt. Selbst in Reggio Calabria hatten die Mafiosi aufgehört, sich gegenseitig umzubringen, und es schien, als sei ein gerechter und dauerhafter Frieden erreicht. Doch in Kalabrien herrschte lediglich eine pax mafiosa. Ein Strategiewechsel, ein taktischer Rückzug. Die ’Ndrangheta hatte beschlossen, auf Entführungen zu verzichten, sich von der Cosa Nostra nicht mehr in erfolglose Strategien gegen den Staat hineinziehen zu lassen und sich vor blutigen Bruderkriegen in Acht zu nehmen. Der Baum sollte in aller Stille weiterwachsen. Mit öffentlichen Bauprojekten wie der Autobahn Salerno - Reggio Calabria drangen seine Wurzeln immer tiefer in die kalabrische Erde, und seine Krone entfaltete sich im weltweiten Drogenhandel, jetzt vor allem mit Kokain.
    Der Baum, der seit alters her die einzelne ’ndrina oder Familie ebenso symbolisierte wie die »ehrenwerte Gesellschaft«, bot auch die Antwort auf den wachsenden Bedarf an Zusammenhalt und Koordination. Seit hundert Jahren gaben die Mitglieder die symbolische Bedeutung des Baums weiter, vom Vater an den Sohn, vom alten Boss an den Neuling. »Der Stamm ist das Oberhaupt der Gesellschaft; die starken Äste sind der contabile [Finanzchef], und der mastro di giornata [der dem obersten Boss zur Seite steht und seine Befehle
    weiterleitet]; die dünneren Äste sind die camorristi di sangue [die Auftragsmorde erledigen und Schutzgelder eintreiben] und die camorristi di sgarro [die über Verdienste und Vergehen der Mitglieder Buch führen]; die Zweige die picciotti oder puntaioli [die Handlanger]; die Blüten bilden die giovani d’onori [die Sprösslinge der Mitglieder]; die Blätter sind die Schurken und Verräter der ’Ndrangheta, die am Fuß des Baums der Wissenschaft verrotten.« So heißt es in einem Kodex von Gioiosa Jonica aus dem Jahr 1927. Im Lauf der mündlichen Überlieferung sind viele Varianten entstanden, doch die Grundidee blieb unverändert. Die Bosse bilden den unteren Teil des Stamms oder den ganzen Stamm, der sich in hierarchischer Ordnung immer weiter verästelt bis in die äußersten Zweige des Baumes.
    Die Bosse der einflussreichsten Familien brauchten dieses Modell nur zu übernehmen. So erhielt die ’Ndrangheta eine hierarchische Struktur, die sie jedoch nicht von der Cosa Nostra übernommen hat. Die Organisation der Sizilianer gleicht einer Pyramide, der Baum der Kalabresen dagegen einem Dreieck, dessen Spitze nach unten weist, oder einem »V«, dessen Linien sich bis ins Unendliche fortsetzen und verlängern können.
    Und genau dies geschah in jenen gut zehn Jahren. In Italien zerfielen die Sozialistische Partei und die Democrazia Cristi-ana; neun Regierungen folgten aufeinander, rechte und linke, Regierungen mit breiter Koalitionsbasis und Regierungen der nationalen Verantwortung, die Regierungen Berlusconis und das Bündnis Olivenbaum, ein weitaus weniger robuster Baum als jener der ’Ndrangheta. In Kolumbien wurde Pablo Escobar getötet, und die Kalabresen dirigierten ihre Mittelsmänner nach Cali um. Nach dem Zerfall des Cali-Kartells mussten

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