ZeroZeroZero: Wie Kokain die Welt beherrscht
sie mit denen zusammenarbeiten, die noch übrig waren, und mit
denen, die neu hinzukamen. Unverändert blieb nur ihre »ehrenwerte Gesellschaft«, die so fruchtbar war wie der mythologische und reale Baum, auf den sie sich berief. In Italien rückte die ’Ndrangheta erneut ins öffentliche Bewusstsein, als 2005 in Locri der Vizepräsident des kalabrischen Regionalrats, Francesco Fortugno, ermordet wurde und die Jugend mit dem Slogan »Ammazzateci tutti«, Bringt uns alle um, erstmals zum kollektiven Protest aufrief. Doch Italien erholte sich schnell wieder von dem Schock, denn die Ereignisse im Süden betrachtet man als Manifestationen eines endemischen Problems, das auf Landstriche begrenzt ist, für die es keine Hoffnung gibt und die den Rest des Landes nichts angehen.
Der Baum war inzwischen riesengroß geworden. Das hätte man erkennen können, wenn man die Zeitungsberichterstattung mit einem Minimum an Aufmerksamkeit kontinuierlich verfolgt hätte. Ja, eine einzige Geschichte, die ihren Weg in die überregionalen Zeitungen fand, hätte genügt: eine Geschichte, die den ganzen Baum enthüllte. Ein Blatt hatte sich vom Baum gelöst, doch bevor dieses Blatt zu Boden fiel, hatten es die Ermittler aufgesammelt. Ein seltenes Ereignis, denn ein Blatt, das sich vom Baum löst, stellt in der Regel keine Gefahr dar.
Bis heute haben sich weniger als hundert ’Ndranghetisti zur Zusammenarbeit mit der Justiz bereiterklärt, die Bosse kann man an zehn Fingern abzählen. Es ist äußerst schwer, einer Organisation den Rücken zu kehren, die mit der Familie identisch ist, in die man hineingeboren, mit der man durch Heirat oder Taufe verbunden ist oder der fast alle angehören, die man seit seiner Kindheit kennt. Und wenn man ein Ast des Baumes ist, ist es fast unmöglich, von ihm loszukommen. Aber in diesem Fall handelte es sich nicht um einen Ast und auch nicht um einen kleinen Zweig, sondern nur um ein Blatt, das nie mehr war
als ein Blatt: einen jener »contrasti onorati«, die der Organisation nahestehen, ohne ihr anzugehören. Und selbst das war er erst am Ende eines langen und beschwerlichen Wegs geworden.
Das Blatt, das den ganzen Baum bloßgestellt hat, heißt Bruno Fuduli.
Bruno war noch ein Junge, als er die Nachfolge seines Vaters antreten und sich um seine Angehörigen kümmern musste. Das ist das Schicksal der ältesten Söhne. Bei den ’ndrine ist diese dynastische Nachfolge ein ehernes Gesetz, um Machtkämpfe zu verhindern, wenn ein capobastone, das Oberhaupt einer ’ndrina, stirbt oder im Gefängnis landet. In einem Familienunternehmen ist dies gängige Praxis, nicht nur in Kalabrien oder im Süden Italiens. Der älteste Sohn arbeitet im Unternehmen mit, um zu lernen und oft auch, um neue Ideen einzubringen, zu denen die jüngere Generation leichter Zugang hat.
Bruno war zwanzig, als sein Vater starb und ihm die Firma Filiberto Fuduli in Nicotera hinterließ, einem alten Dorf am Tyrrhenischen Meer mit Zugang zu dem berühmten langen weißen Strand, an dem sich im Sommer die Touristen tummeln. Doch er erbte auch eine halbe Milliarde Lire Schulden, die er loszuwerden hoffte, indem er auf Wettbewerb und Innovation setzte.
Marmor, Granit und die anderen Materialien, die sein Vater in seiner Steinmetzfirma bearbeitet hatte, kamen in jenen Jahren wieder in Mode. Es stieg die Nachfrage bei der Innenausstattung von Privathäusern. Hinzu kam der von keiner Mode abhängige Bedarf von Marmor für Grabsteine. Bruno mobilisiert alle seine Kräfte. Er modernisiert das Angebot, ändert die Firmenbezeichnung und Rechtsform des
Unternehmens und eröffnet zusammen mit seinem Schwager zwei neue Betriebe. All diesen Aktivitäten steht neben den Schulden noch ein weiteres Hindernis im Weg: Diebstahl, Vandalismus und vorsätzliche Täuschung, unter denen die väterliche Firma zu leiden hat. Doch ausgerechnet in diesem Punkt, in dem man gerade in diesem Landstrich mehr Flexibilität hätte erwarten können, bleibt der ehrgeizige Junge dem Starrsinn des alten Filiberto treu. Statt sich mit den entsprechenden Leuten »ins Vernehmen zu setzen«, geht er zu den Carabinieri und erstattet Anzeige.
Für die Familie, die die Provinz Vibo Valentia beherrscht, ist er nur eine lästige Fliege, die an einem schwülen Sommertag die Mittagsruhe stört. Die Mancuso sind seit Menschengedenken dort ansässig. Sie können auf ein Gerichtsurteil aus dem Jahr 1903 verweisen, mit dem ihr Urgroßvater der Bildung einer kriminellen Vereinigung
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