Zerrissenes Herz (German Edition)
im Zug. Connor hatte angeboten, ihn am Flughafen in Albany abzuholen, aber Julian hatte sich für die Zugfahrt entschieden. Er trug die Zivilkleidung, die ihm gegeben worden war.
Der Armeepsychologe hatte ihm geraten, keine zu großen Veränderungen in seinem Leben vorzunehmen. Er sollte erst einmal langsam machen und sich allmählich wieder eingewöhnen. Julian war ziemlich sicher gewesen, dass ihm das nicht gelingen würde, aber er hatte sich bereit erklärt, es wenigstens zu versuchen.
Die Welt flog vor dem Fenster an ihm vorbei. Albany und seine Vororte waren ziemlich grau und langweilig mit vielen Fabriken, Einkaufsstraßen, großen Lagerhäusern und deprimierenden Wohnprojekten. Bald jedoch veränderten sich die Farben, Julian sah das satte Grün und Gold der Catskills. Seen und Flüsse prägten die Landschaft, adrette kleine Farmen und Dörfer tauchten auf. Die Hügel wurden im Westen immer höher, wo sie dann in die Berge übergingen.
Die Anfahrt nach Avalon war genauso, wie er sie sich so oft im Geist ausgemalt hatte. Es war schon beinahe dunkel, aber er sah die überdachte Brücke, die sich über den Fluss spannte, undin der Ferne den Willow Lake, umgeben von Wäldern und dem einen oder anderen Häuschen.
Der Zug kam kreischend und zischend zum Stehen. Julian schulterte seine Tasche, an der immer noch sein Namensschild baumelte – Second Lieutenant J. Gastineaux –, und ging nach draußen, wo ihn eine kühle, frische Brise empfing. Avalon war ein ganz normales kleines Städtchen, wie es in diesem Land so viele gab. Doch in seinen Augen sah es so gut aus. So … normal.
Er rief sich in Erinnerung, dass er nicht den Empfang erhalten würde, von dem er so lange geträumt hatte. Doch da war sein Bruder und erwartete ihn mit weit geöffneten Armen. Sie fielen einander um den Hals, und mitten in der festen Umarmung brach Julian zusammen und weinte und schluchzte. Endlich fühlte er sich komplett in Sicherheit. Dieses Gefühl war ihm während des Martyriums vollkommen abhandengekommen.
„Ich kann es nicht glauben“, sagte Connor. „Ich kann nicht glauben, dass du hier bist.“
„Ich auch nicht.“ Julian wischte sich mit dem Ärmel übers Gesicht. „Ich dachte, dieser Tag würde niemals kommen.“
Connor nahm seine Tasche. „Komm, gehen wir nach Hause. Lolly hat ein Festessen vorbereitet. Und warte nur, bis du deine Nichte siehst.“ Sie stiegen in den Truck und fuhren los.
„Zoe war noch ein Baby, als ich weggegangen bin.“
„Jetzt ist sie ein kleines Kind und weiß alles.“
Julian erinnerte sich an Charlie in dem Alter: ein fröhliches Kind, das die ganze Welt liebte. Wie war er wohl heute?
„Ich bin froh, dass sie alles weiß“, sagte er. „Denn ich habe ganz schön viele Fragen.“
„Die haben wir alle, Bruder.“
„Hier sieht alles noch genauso aus wie damals“, murmelte Julian. „Aber ich weiß, dass das nicht sein kann.“
„Du hast immer noch deine Freunde und deine Familie“, versicherte ihm Connor. „Wir waren alle am Boden zerstört, als wir die Nachricht von deinem Tod erhalten haben. Wir haben nie aufgehört, an dich zu denken oder dich zu vermissen. Nichtfür eine Minute.“
„Ich … ich schätze, ich weiß nicht, was ich dazu sagen soll. ‚Danke, dass du mich nicht vergessen hast‘?“
„Sag, was du willst. Du hast einen Freifahrtschein.“
Julian verstand, dass Connor ihm damit die Möglichkeit geben wollte, zu erzählen, was passiert war. Während des Debriefings hatte man ihm geraten, sich therapeutisch betreuen zu lassen, und er hatte vor, das auch zu tun. Doch im Moment wollte er einfach nur mit seinem Bruder zusammen sein.
„Das weiß ich zu schätzen“, erwiderte er. „Irgendwann in den nächsten Tagen werde ich darauf zurückkommen.“
„Ich muss dich was wegen heute Abend fragen“, sagte Connor. „Etwas wegen Daisy.“
Beim Klang ihres Namens zuckte Julian zusammen, aber es gelang ihm, seine Reaktion zu verbergen. „Was ist mit ihr?“
„Zuerst einmal wollte ich dir sagen, dass es mir gar nicht gefallen hat, dass ich dir das am Telefon sagen musste.“
„Na ja, es gibt wohl einfach keinen guten Weg, um schlechte Nachrichten mitzuteilen.“ Julian war das Gespräch wieder und wieder durchgegangen. Sayers hatte ihm geraten, sich die Zeit zu nehmen, um die Information gründlich zu verdauen. Damit hatte sie gemeint, dass er nicht heulend zusammenbrechen und über die Ungerechtigkeit der Welt wüten sollte.
Und wenn er ehrlich mit sich
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