Zerrissenes Herz (German Edition)
zu seiner Abfahrt war er schon beinahe Furcht einflößend genau gewesen. Er hatte ein Testament geschrieben und Witze darüber gemacht, dass sein klappriges Auto und die Sammlung zerlesener Bücher die Kosten für die Testamentsbeglaubigung gar nicht wert wären. Er hatte all seine Sachen bei seinem Bruder eingelagert und private Briefe geschrieben, von denen Daisy hoffte, dass sie sie niemals würde lesen müssen. Er hatte sogar seinen Handyvertrag gekündigt.
Nachdem sie tief eingeatmet hatte, brachte sie ein Lächeln zustande. Wenn sie ihn ansah, sollte er erkennen, wie sehr sie ihn liebte. Sie wollte sich nicht in Tränen und Ängsten verlieren. Um sich auf seine Abreise vorzubereiten, hatte sie alles über das Leben mit einem Militärangehörigen gelesen, was sie hatte finden können. Es war beinahe unheimlich, wie passend alle Artikel waren. In den letzten Tagen schien Julian mit seinen Gedanken manchmal ganz weit weg gewesen zu sein, wodurch Daisy sich seltsam getrennt von ihm gefühlt hatte. Das ist ganz normal, hatte sie sich in Erinnerung gerufen. Und es war genauso normal, dass sie das intensive Bedürfnis hatte, bei ihm zu sein, sodass sie sich auf nichts anderes mehr konzentrieren konnte.
Sei im Hier und Jetzt, ermahnte sie sich. Sei in diesem Moment.
Sie kämpfte gegen den Wunsch, sich an ihn zu klammern und ihn zu bitten, nicht zu gehen. An anderen Soldatenfrauen hatte sie gesehen, dass eine gewisse Würde bestechender war als Tränen und hysterische Anfälle.
Als das Pfeifen eines Zuges ertönte, schaute Julian erneut auf die Uhr. „Ich gehe lieber zum Bahnsteig“, sagte er.
Daisy Herz klopfte rasend schnell, während sie neben ihm unter dem Vordach entlangging und dann die Stufen zum Bahnsteig hinaufeilte. Nach der ganzen Zeit des Wartens, den langsamen, qualvollen Sekunden, die zu diesem Augenblick geführt hatten, schien jetzt alles plötzlich viel zu schnell zu gehen.
Sie konnte sich nur auf Julian konzentrieren. Er stellte seinen Seesack ab, umarmte sie und gab ihr einen langen, intensiven Kuss. Unser letzter Kuss für fünf Monate, dachte Daisy. Wie könnte sie ihn noch besonderer, noch erinnerungswürdiger machen? Wie könnte sie das hier in etwas verwandeln, das sie während seiner langen Abwesenheit stützen würde?
„Pass auf dich auf“, flüsterte er an ihren Lippen. „Versprich es mir.“
„Ich verspreche es. Ich werde jede Minute an dich denken.“
„Denk vor allem daran, wie sehr ich dich liebe. Ich habe versucht, es dir letzte Nacht zu zeigen. Aber das war nur der Anfang.“
Sie weinte, schaffte es jedoch, ein Schluchzen zu unterdrücken und sich nicht in ein Bündel Verzweiflung zu verwandeln. Es brach ihr das Herz, aber sie grub tief und fand einen gewissen Gleichmut, von dem sie nicht gewusst hatte, dass sie zu so etwas überhaupt fähig war.
Sie trennten sich, traten einen Schritt voneinander weg, ihre Hände berührten sich noch, dann nur die Finger, dann nichts mehr außer Luft zwischen ihnen. Julian hob seinen Seesack auf und ging in Richtung Zug, verschmolz mit der kleinen Gruppe Reisender, die ebenfalls einstieg.
Daisy fühlte sich leer, wie jemand, der gerade angegriffen worden war. Es war, als hätte ihr jemand Gewalt angetan. Warum hatten sie einander nicht länger festgehalten, noch einmal geküsst?
Als der Zug aus dem Bahnhof fuhr, trat Julian an die Tür zwischen zwei Waggons. Über das Rattern und Zischen des Zuges hinweg rief er: „Daisy, ich liebe dich!“
„Hey, Daisy“, rief ein anderer Passagier. „Er liebt dich!“
„Er liebt dich, Daisy!“, rief noch jemand, den sie nicht sehenkonnte. Dann fielen immer mehr Stimmen in den Refrain ein.
Sie lachte durch ihre Tränen hindurch und rief zurück: „Julian, ich liebe dich!“ Doch er konnte sie vermutlich schon nicht mehr hören; die Lokomotive stieß ein schrilles Pfeifen aus und verließ den Bahnhof.
„Oh“, sagte Sonnet. „Nein, nein, nein, nein, nein.“ Sie eilte ins Haus und ging einmal im Kreis um Daisy herum, die sich gerade für das erste Treffen der ROTC-Gruppe für Freunde und Familienangehörige fertig machte.
Daisy hatte schnell gelernt, dass es beim Militär für fast alles eine Selbsthilfe- oder Unterstützergruppe gab. Heute wollte sie zu einem Treffen von Leuten, die alle einen geliebten Menschen in der Armee hatten. Zu dieser Jahreszeit heirateten oder verlobten sich viele ROTC-Mitglieder, deshalb machten die Gruppen mobil.
Sonnet kannte sich damit aus, weil ihr
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