Zersplittert: Dystopie-Trilogie Band 2 (German Edition)
nächsten Morgen bei Dr. Lysander im Wartezimmer sitze, bin ich angespannt. Mittlerweile habe ich so viel vor ihr zu verbergen. Ich versuche, mich in Kyla einzufühlen, in die Zeit vor den Erinnerungen, aber das fällt mir schwer. Dr. Lysander darf keine Veränderungen an mir bemerken, denn wenn sie Scans anordnet, bin ich verloren.
Auch diesmal steht ein Lorder vor ihrem Büro und hält Wache. Aus dem Nachbarzimmer tritt eine Krankenschwester, ihr Gesicht kommt mir nicht bekannt vor, aber ich präge es mir ein. In dem Moment wird mir schlagartig klar, dass ich mir auch die Gesichter der Lorder merken sollte!
Ich muss mich regelrecht dazu zwingen, den Wachmann eingehend zu betrachten. Mir ist unwohl dabei, denn instinktiv will ich wegsehen, Blickkontakt vermeiden und möglichst unbemerkt bleiben. Außer Coulson, dessen Gesichtszüge sich mir eingebrannt haben, und den Gesichtern der Lorder, die Cam und mich abgefangen haben, könnte ich kaum sagen, wie Lorder aussehen. Männer wie Frauen kleiden sich gleich, sie tragen meistens dieselben grauen Anzüge. Oder Militärkluft wie dieser Lorder hier beim Wachdienst, mit einer schwarzen Weste und einer Waffe am Gürtel. Nico behauptet, die Westen seien kugelsicher. Die Körpersprache der Lorder ist recht deutlich: Bleib uns fern! In der Regel sind ihre Gesichter ausdruckslos, das Haar entweder kurz geschnitten oder straff zurückgebunden. Nichts weist sie als Individuen aus. Ob sie an ihren freien Tagen Jeans anhaben und aussehen wie jeder andere auch?
Mich überrascht, wie jung der Wachmann ist. Warum eigentlich? Wahrscheinlich kommt er mir durch die Uniform und sein autoritäres Gebaren automatisch älter vor. Ausdruckslos starrt er vor sich hin, von unbedeutenden Wesen wie mir scheint er gar keine Notiz zu nehmen. Dabei ist er nicht älter als Mac oder Aiden, etwa Anfang zwanzig. Von durchschnittlicher Größe und Statur. Schlanke, zarte Finger wie ein Musiker, die nicht fürs Halten einer Waffe gedacht sind. Schon wieder geht die Fantasie mit mir durch. Haselnussbraune Augen, kurzes hellbraunes Haar. Durchschnittliche Züge in einem Durchschnittsgesicht, keine leichte Aufgabe für einen Künstler, aber ich präge mir alles ein, damit ich ihn später präzise zeichnen kann …
Er rollt mit den Augen. Verändert die Stellung, dreht sich ein wenig, ansonsten lässt er sich nichts anmerken.
Fast wäre ich vom Stuhl gefallen.
Dr. Lysander erscheint im Türrahmen. »Kyla? Du kannst jetzt hereinkommen.«
Gerettet. Rasch husche ich an dem Lorder vorbei.
Dr. Lysander lächelt, sie scheint gute Laune zu haben.
»Guten Morgen, Kyla. Was geht dir heute im Kopf herum?«
»Sind Lorder auch Menschen?« Sobald mir die Frage herausgerutscht ist, winde ich mich. Ich war so mit diesem Wachmann beschäftigt, dass ich vergessen habe, mir zu überlegen, was ich ihr erzählen will.
»Was?«, fragt sie lachend. »Oh, Kyla, mit dir unterhalte ich mich wirklich gerne. Natürlich sind sie das.«
»Ich weiß, dass sie Menschen sind. Aber das habe ich damit gar nicht gemeint.«
»Dann erklär mal, was du gemeint hast.«
»Führen sie ein normales Leben? Haben sie Haustiere, Hobbys? Spielen sie Instrumente oder werden zum Essen eingeladen? Oder marschieren die den ganzen Tag nur mit finsterem Gesicht herum?«
Dr. Lysander lächelt ein wenig. »Ich nehme schon an, dass sie ein Privatleben haben. Aber eigentlich wird mir jetzt erst bewusst, dass ich noch nie mit einem Lorder zusammen zu Mittag gegessen habe, außer mit dem vor der Tür.«
»Sie werden selbst beim Essen beschützt?«
»Zurzeit werde ich fast überall bewacht. Aber um mich geht es hier nicht.«
»Also, ich werde nicht bewacht. Ich werde ignoriert oder man wirft mir böse Blicke zu.« Sie entführen mich und bieten mir unmögliche Deals an. Schnell schiebe ich den Gedanken von mir, bevor sie ihn mir noch ansieht, doch Dr. Lysander ist mit ihrem Computer beschäftigt. Sie tippt eine Weile darauf herum und schaut dann hoch.
Aufmerksam betrachtet sie mich. »Sind dir noch mehr Erinnerungen gekommen? Hast du Träume gehabt, die dir real vorkamen?«
»Kann schon sein.«
»Erzähl mir davon.«
Ich kann sie unmöglich anlügen, selbst wenn es mir gelänge, sollte ich es nicht. Dr. Lysander muss meinen Erzählungen Glauben schenken, ansonsten lässt sie Scans machen. »Ich habe von einem Albtraum geträumt. Und …«, ich stocke.
»Ja?«
»Als ich aufgewacht bin, hat mich ein Junge im Arm gehalten. Aber in Wirklichkeit
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