Zerstöre mich
die Treffen mit ihr. Auf ihr Temperament, ihre Wutausbrüche. Ihre albernen Anschuldigungen. Ich wünschte mir, dass sie mich anbrüllte; ich hätte ihr gratuliert, wenn sie mich jemals geschlagen hätte. Ich manipulierte sie, spielte mit ihren Gefühlen. Ich wollte den wahren Menschen kennenlernen, der hinter der Angst steckte. Ich wollte, dass sie sich endlich von ihren selbst auferlegten Beschränkungen befreite.
Denn in der Isolation konnte sie noch Scheu vortäuschen, aber hier draußen, inmitten von Chaos und Zerstörung, würde sie anders sein. Das ahnte ich, und ich hatte darauf gewartet. Tag für Tag hatte ich geduldig darauf gewartet, dass sie die gesamte Dimension ihrer Fähigkeiten begreifen würde. Und dabei hatte ich übersehen, dass ich sie ausgerechnet dem einzigen Soldaten anvertraut hatte, der sie mir wegnehmen würde.
Dafür sollte ich mich eigentlich selbst erschießen.
Stattdessen öffne ich die Tür zu ihrem Zimmer.
Sie schließt sich hinter mir, als ich über die Schwelle trete. Ich bin allein in dem Raum, in dem Juliette sich zuletzt aufgehalten hat. Das Bett ist zerwühlt, der Schrank steht offen, das zerbrochene Fenster wurde behelfsmäßig zugeklebt. Ich habe ein flaues, nervöses Gefühl im Magen, das ich nicht beachten will.
Konzentration .
Ich gehe ins Badezimmer, untersuche die Kosmetika, die Schränkchen, sogar die Duschkabine.
Nichts.
Ich gehe zum Bett, streiche über die zerknüllte Decke, das eingedellte Kissen. Erlaube mir einen Moment lang die Erinnerung daran, dass sie hier gewesen ist. Dann ziehe ich das Bett ab. Laken, Kissenbezug, Bettdecke – ich werfe alles auf den Boden. Untersuche jeden Zentimeter des Kissens, der Matratze, des Bettgestells. Und finde nichts.
Der Nachttisch. Nichts.
Unter dem Bett. Nichts.
Die Lampen, die Tapete, jedes einzelne Kleidungsstück im Schrank. Nichts.
Erst als ich wieder zur Tür gehe, spüre ich etwas unter meinem Fuß. Ich blicke nach unten. Und da, unter meinem Stiefel, ragt etwas hervor. Ein kleines unauffälliges Notizheft, nicht größer als meine Handfläche.
Einen Moment lang bin ich so verblüfft, dass ich mich nicht rühren kann.
9
Wie hatte ich das nur vergessen können?
Dieses Notizheft hatte sie am Tag ihrer Flucht bei sich. Kurz bevor Kent mir die Pistole an den Kopf hielt, hatte ich es gefunden und wohl in dem Chaos wieder verloren. Genau danach hätte ich schon die ganze Zeit suchen sollen.
Ich bücke mich und hebe es auf. Schüttle vorsichtig Glassplitter heraus. Meine Hand zittert, mein Pulsschlag dröhnt in meinen Ohren. Ich habe keine Ahnung, was ich in diesem Heft finden werde. Zeichnungen. Notizen. Wirre, halb fertige Gedanken.
Es kann alles Mögliche sein.
Ich drehe das Heft in den Händen hin und her. Meine Finger erinnern sich an den rauen abgegriffenen Pappeinband. Er ist schmutzig braun. Ich kann nicht einschätzen, ob er immer so aussah oder ob er diesen Farbton im Lauf seiner Geschichte bekommen hat. Ich frage mich, wie lange sie dieses Heft schon hatte. Und wo sie es gekauft hat.
Ich stolpere rückwärts, bis meine Beine ans Bettgestell stoßen. Meine Knie geben nach, ich muss mich setzen. Ich atme zittrig ein, schließe die Augen.
Ich habe Filmaufnahmen von ihrer Zelle in der Anstalt gesehen, aber sie waren ziemlich unergiebig. Durch das kleine Fenster drang zu wenig Licht in den Raum, und man erkannte sie meist nur so verschwommen wie einen Schatten. Unsere Kameras konnten lediglich Bewegung registrieren; deshalb gab es höchstens ein klareres Bild, wenn einmal ein Sonnenstrahl durchs Fenster fiel. Und Juliette lag die meiste Zeit fast reglos auf ihrem Bett oder saß in einer dunklen Ecke. Sie sprach so gut wie nie. Und wenn sie etwas äußerte, waren es keine Wörter. Nur Zahlen.
Sie zählte.
Es hatte etwas Irreales. Ich konnte weder ihr Gesicht noch die Umrisse ihres Körpers klar erkennen. Doch sie faszinierte mich schon damals. Dass sie so still sein konnte. Stundenlang saß sie an einer Stelle, und ich fragte mich, was wohl in ihr vorging, welche Gedanken sie hatte, wie es ihr gelang, in dieser Einsamkeit zu überleben. Und ich wünschte mir so sehr, sie sprechen zu hören.
Ich war verrückt nach ihrer Stimme.
Ich hatte erwartet, dass sie eine Sprache sprechen würde, die ich verstehen konnte. Ein paar einfache Worte vielleicht. Oder auch irgendetwas völlig Unverständliches. Als ich ihre Stimme dann wirklich zum ersten Mal hörte, war ich wie gebannt. Konnte den Blick nicht
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