Zerstöre mich
benutzen wollte, behauptete ich meinem Vater gegenüber, um Zugang zu ihr zu bekommen, um mir Einsicht in ihre Akten zu verschaffen. Diese Täuschung musste ich vor meinen Soldaten und den Hunderten von Kameras aufrechterhalten, die mein Dasein überwachen. Ich habe Juliette nicht zum Stützpunkt bringen lassen, um ihre Kräfte auszubeuten. Und ich hatte ganz gewiss nicht damit gerechnet, dass ich ihr verfallen würde.
Aber diese Wahrheiten und meine eigentlichen Motive werden mit mir begraben werden.
Ich lasse mich aufs Bett sinken. Lege mir die Hand auf die Stirn, streiche mir übers Gesicht. Hätte ich selbst Zeit gehabt, mich um sie zu kümmern, hätte ich niemals Kent damit beauftragt. Jede Entscheidung, die ich getroffen hatte, war falsch, jede strategische Erwägung ein Irrtum. Eigentlich wollte ich Juliette dabei beobachten, wie sie sich im Umgang mit anderen verhielt; ich wollte wissen, ob sie mein Bild von ihr zerstören würde, indem sie ganz normal mit jemandem sprach. Doch dann trieb es mich zur Raserei, sie in Gesellschaft von anderen zu beobachten. Ich war eifersüchtig. Lächerlich eifersüchtig. Ich wollte, dass sie mich kennenlernte; ich wollte, dass sie mit mir sprach. Und damals spürte ich es – dieses seltsame, unerklärliche Gefühl, dass sie vielleicht der einzige Mensch auf der Welt war, für den ich wahrhaft etwas empfinden konnte.
Ich zwinge mich zum Aufsetzen. Wage einen Blick auf das Notizheft, das ich immer noch in der Hand halte.
Ich habe sie verloren.
Sie hasst mich.
Sie hasst mich, und ich widere sie an, und ich sehe sie womöglich nie wieder, und daran trage ich ganz allein die Schuld. Dieses Notizheft ist vielleicht alles, was mir von ihr bleibt. Meine Hand verharrt noch immer über dem Einband, verlangt, dass ich das Heft aufklappe und sie wiederfinde, wenn auch nur für kurze Zeit, wenn auch nur auf Papier. Doch ein Teil von mir fürchtet sich. Das kann übel ausgehen. Vielleicht will ich nicht wissen, was das Heft enthält. Und wenn es sich gar als eine Art Tagebuch erweist, dem sie ihre Gefühle für Kent anvertraut hat, springe ich womöglich aus dem Fenster.
Ich schlage mir mit der Faust an die Stirn. Atme ganz langsam ein.
Dann klappe ich es auf. Überfliege die erste Seite.
Und erst jetzt wird mir die Bedeutung meines Funds wirklich bewusst.
Ich denke immer wieder, dass ich nur ruhig bleiben muss, dass ich mir alles einbilde, dass alles gut wird, dass gleich jemand die Tür öffnen und mich befreien wird. Ich denke immer wieder, dass das gleich passieren wird. Dass es passieren muss, denn so etwas wie das hier passiert eben nicht. Es kann nicht sein. Menschen werden nicht einfach so vergessen. Im Stich gelassen.
Das kann nicht sein.
Mein Gesicht ist blutverkrustet, weil man mich zu Boden geworfen hat, und meine Hände zittern immer noch. Der Stift ist meine Stimme, denn ich kann mit niemandem sprechen, habe nur meine eigenen Gedanken, in denen ich ertrinke, und alle Rettungsboote sind weg und alle Rettungsringe sind kaputt, und ich kann nicht schwimmen ich kann nicht schwimmen und es ist so schlimm. Es ist so schlimm. Es ist, als säßen Millionen Schreie in meiner Brust, aber ich kann sie nicht rauslassen, denn was nützt es, wenn man schreit und nicht gehört wird, und hier drin wird mich niemand hören. Niemand wird mich jemals wieder hören.
Ich habe es gelernt, auf etwas zu starren.
Die Wände. Die Risse in den Wänden. Meine Hände. Die Linien auf meinen Fingern. Das Grau des Betons. Die Form meiner Fingernägel. Ich suche mir etwas aus und starre dann stundenlang darauf. Ich behalte die Zeit im Kopf, indem ich die Sekunden zähle. Ich behalte die Tage im Kopf, indem ich sie aufschreibe. Heute ist Tag zwei. Heute ist der zweite Tag. Heute ist ein Tag.
Heute.
Es ist so kalt hier. So kalt so kalt so kalt.
Bitte bitte bitte
Ich schlage das Heft zu.
Meine Hand zittert extrem, und ich kann nichts dagegen tun. Das Zittern kommt tief aus meinem Inneren, aus der Erkenntnis, was ich da in Händen halte. Dieses Tagebuch stammt nicht aus ihrer Zeit hier. Es hat nichts mir oder Kent oder sonst wem zu tun. Dieses Tagebuch ist ein Dokument ihrer Gefangenschaft in der Anstalt.
Und dieses kleine schäbige Heft bedeutet mir plötzlich mehr als alles, was ich jemals besessen habe.
10
Ich weiß nicht einmal, wie ich es geschafft habe, so schnell in meine Räume zurückzukehren. Ich weiß nur, dass ich die Tür zu meinem Schlafzimmer abgeschlossen habe, dass ich
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