Zerstöre mich
abwenden. Saß angespannt da, starrte auf das Bild, als sie die Wand berührte und zählte.
4572.
Ich beobachtete sie beim Zählen. Bis 4572.
Es dauerte fünf Stunden.
Erst später wurde mir klar, dass sie ihre Atemzüge gezählt hatte.
Danach konnte ich nicht mehr aufhören, an sie zu denken. Schon lange, bevor sie auf dem Stützpunkt eintraf, war ich dauernd abgelenkt, weil ich daran dachte, was sie wohl gerade tat und ob sie wieder sprechen würde. Wenn sie nicht laut zählte, tat sie es dann stumm? Dachte sie auch in Wörtern? Vollständigen Sätzen? War sie wütend? Traurig? Warum wirkte sie so gelassen, obwohl man mir gesagt hatte, dass sie sich wie ein tollwütiges Tier benahm? War das eine bewusste Täuschung?
Ich hatte alle Dokumente über ihr Leben eingehend studiert. Kannte jede Einzelheit aus Krankenakten und Polizeiberichten, hatte mich durch Schulbeschwerden, Arztmitteilungen, ihre offizielle Verurteilung seitens des Reestablishment und sogar den Anstaltsfragebogen gearbeitet, den man ihren Eltern vorgelegt hatte. Ich wusste, dass man sie mit vierzehn von der Schule genommen hatte. Dass sie zahlreiche Tests durchlaufen und man sie gezwungen hatte, diverse unbekannte – und gefährliche – Medikamente einzunehmen. Man hatte sie einer Elektroschocktherapie unterzogen. Im Laufe von zwei Jahren hatte sie insgesamt neun Jugendstrafanstalten durchlaufen und war von über fünfzig Ärzten untersucht worden, die sie übereinstimmend als Monstrum beschrieben hatten. Sie bezeichneten sie als Gefahr für die Gesellschaft und Bedrohung für die Menschheit. Als eine Person, die unsere Welt zerstören könnte und bereits damit begonnen hatte, indem sie ein Kleinkind tötete. Als sie sechzehn war, verlangten ihre Eltern, dass man sie wegsperren sollte. Und so geschah es.
Das alles ergab für mich keinerlei Sinn.
Das Mädchen war von der Gesellschaft, sogar von ihren eigenen Eltern verstoßen worden – sie musste doch voller Gefühle sein. Wut. Depression. Aggression. Wo waren all diese Emotionen?
Sie wies keinerlei Ähnlichkeit mit den anderen Insassen der Anstalt auf – den wirklich gestörten. Einige warfen sich stundenlang gegen die Wand, brachen sich die Knochen, spalteten sich den Schädel. Andere waren so wahnsinnig, dass sie sich die Haut zerkratzten, bis sie bluteten, und sich förmlich selbst in Stücke rissen. Wieder andere sprachen laut mit sich selbst, lachten, sangen, stritten. Die meisten zerrten sich die Kleider vom Leib, standen und schliefen in ihren eigenen Exkrementen. Sie war die Einzige, die regelmäßig duschte und sogar ihre Kleider wusch. Ihre Mahlzeiten nahm sie komplett zu sich. Und die meiste Zeit starrte sie aus dem Fenster.
Sie war 264 Tage eingesperrt, ohne ihre Menschlichkeit einzubüßen. Es interessierte mich, wie es ihr gelang, so viel zu unterdrücken; weshalb sie nach außen hin so ruhig wirken konnte. Ich hatte mir die Akten anderer Insassen vorlegen lassen, um vergleichen zu können. Ich wollte wissen, ob ihr Verhalten in dieser Situation der Norm entsprach.
Dem war nicht so.
Ich beobachtete den stillen Umriss dieses Mädchens, das ich nicht genau sehen konnte und nicht kannte, und empfand allergrößten Respekt vor ihr. Ich bewunderte sie, beneidete sie geradezu um ihre Haltung, um diese Zähigkeit – vor allem in Anbetracht dessen, was sie durchgemacht hatte. Meine Gefühle konnte ich damals noch nicht vollständig verstehen. Aber ich spürte, dass ich Juliette haben wollte. Für mich ganz alleine.
Ich wollte ihre Geheimnisse kennen.
Und eines Tages stand sie auf und trat ans Fenster ihrer Zelle. Frühmorgens, als die Sonne gerade aufging, und ich sah zum ersten Mal ihr Gesicht. Sie legte die Handfläche ans Fenster und flüsterte zwei Worte, nur ein einziges Mal.
Verzeih mir.
Diesen Moment habe ich mir unendlich oft angesehen.
Ich konnte niemandem offenbaren, wie sehr sie mich faszinierte. Musste ihr gegenüber Gleichgültigkeit, Überheblichkeit heucheln. Sie sollte als unsere Waffe dienen, nichts weiter. Als innovatives Folterinstrument.
Das war mir ziemlich egal.
Meine Recherchen hatten mich durch Zufall zu ihren Akten geführt. Es war Fügung. Ich hatte nicht nach einer menschlichen Waffe Ausschau gehalten. Lange, bevor ich sie in den Videoaufnahmen sah, und noch viel länger, bevor ich zum ersten Mal mit ihr sprach, hatte ich nach etwas ganz anderem gesucht. Aus einem ganz anderen Grund.
Ich hatte meine eigenen Motive.
Dass ich Juliette als Waffe
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