Zerstöre mich
mich dann in meinem Büro eingeschlossen habe, und dass ich jetzt hier sitze, an meinem Schreibtisch. Dass ich Stapel von Papieren und Geheimakten beiseitegeschoben habe und auf den abgegriffenen Einband eines Heftes starre, vor dem ich mich beinahe fürchte. Dieses Tagebuch ist so intim; es scheint aus den einsamsten und verletzlichsten Momenten im Leben eines Menschen zu bestehen. Diese Seiten schrieb Juliette in den dunkelsten Stunden ihres siebzehnjährigen Lebens, und ich kann jetzt bekommen, was ich mir immer gewünscht habe.
Einblick in ihre Gedanken.
Und obwohl ich fast umkomme vor Spannung, ist mir doch bewusst, wie schlimm das enden kann. Ich bin mir plötzlich nicht mehr sicher, ob ich all das wirklich wissen will. Und doch, ja, ich will ich es. Ich will es auf jeden Fall.
Deshalb schlage ich das Heft auf und blättere zur nächsten Seite. Tag drei.
Heute habe ich angefangen zu schreien.
Diese sechs Worte quälen mich mehr als der schlimmste Schmerz.
Meine Brust hebt und senkt sich, das Atmen fällt mir schwer. Ich muss mich zum Weiterlesen zwingen.
Bald merke ich, dass die Texte völlig ungeordnet sind. Als sie am Ende des Hefts feststellte, dass sie keinen Platz mehr hatte, schien sie wieder von vorne begonnen zu haben. Sie hatte die Ränder genutzt und mit winzigen, kaum entzifferbaren Buchstaben anderen Text überschrieben. Überall stehen Zahlen, manchmal mehrmals dieselben. Manche Wörter kommen immer wieder vor, sind unterstrichen und umkringelt. Und auf fast jeder Seite sind Sätze und ganze Absätze durchgestrichen.
Ein absolutes Chaos.
Mein Herz krampft sich schmerzhaft zusammen, als mir bewusst wird, was sie für einen schrecklichen Leidensweg hinter sich hat. Ich hatte eine vage Ahnung, was sie unter diesen grauenhaften Umständen in ihrer Gefangenschaft durchleiden musste. Doch was ich nun lese, ist weitaus schlimmer, als ich es mir vorstellen konnte.
Ich versuche chronologisch zu lesen, verstehe aber die Nummerierung nicht; nur sie selbst kann dieses System deuten. Deshalb suche ich nach zusammenhängenden Passagen.
An einem Textteil bleibt mein Blick hängen.
Niemals Frieden zu finden ist ein sonderbarer Zustand. Zu wissen, dass es keinen Zufluchtsort gibt, nirgendwo. Dass der Schmerz nur einen Atemzug entfernt ist. Dass ich in diesen 4 Wänden nicht in Sicherheit bin, dass ich niemals in Sicherheit war, sobald ich mein Zuhause verließ, und dass ich nicht einmal dort, in den 14 Jahren, die ich bei meinen Eltern lebte, in Sicherheit war. Die Anstalt bringt täglich Menschen um, die Welt hat mich gelehrt, Angst zu haben, und zuhause hat mein Vater mich jeden Abend in meinem Zimmer eingeschlossen, und meine Mutter brüllte mich an, weil sie mich, eine Missgeburt, großziehen musste.
Sie sagte immer, es läge an meinem Gesicht.
Irgendetwas an meinem Gesicht könne sie nicht ertragen, sagte sie. Etwas an meinen Augen, der Art, wie ich sie ansah, an meinem Dasein als solchem. Ich solle sie nicht mehr anschauen, sagte sie. Als sei das ein Angriff. Hör auf mich anzusehen, schrie sie. Du hörst jetzt sofort auf, mich anzuschauen, schrie sie.
Einmal hat sie meine Hand ins Feuer gelegt.
Nur um zu prüfen, ob ich brennen würde, sagte sie. Nur um zu prüfen, ob meine Hand normal war.
Damals war ich 6 Jahre alt.
Ich erinnere mich noch daran, weil es an meinem Geburtstag war.
Ich werfe das Heft auf den Boden.
Springe auf. Versuche, mein hämmerndes Herz zu beruhigen. Meine Hand verkrallt sich in meinen Haaren. Diese Worte sind mir zu nah, zu vertraut. Die Geschichte eines Kindes, das von seinen Eltern misshandelt wurde. Weggesperrt. Entsorgt. Darüber weiß ich zu viel.
So etwas habe ich noch nie gelesen. Ich habe noch nie etwas gelesen, das so direkt zu meinem Innersten sprach. Und ich weiß auch, dass ich es nicht tun sollte. Ich weiß, irgendwie, dass es mir nicht helfen wird, dass ich nichts daraus lernen werde, dass diese Texte mir nicht offenbaren werden, wo sie sich aufhält. Ich weiß bereits jetzt, dass es mich nur wahnsinnig machen wird.
Dennoch hebe ich das Heft wieder auf.
Und lese weiter.
Bin ich jetzt wahnsinnig geworden?
Ist es jetzt passiert?
Wie finde ich das heraus?
Meine Gegensprechanlage kreischt plötzlich so schrill auf, dass ich über meinen Stuhl stolpere und mich an der Wand hinter dem Schreibtisch abstützen muss. Meine Hände zittern unkontrolliert, Schweiß tritt mir auf die Stirn. Der bandagierte Arm brennt, und meine Beine sind so schwach, dass
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