Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Zerstöre mich

Zerstöre mich

Titel: Zerstöre mich Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Tahereh H. Mafi
Vom Netzwerk:
einen kurzen Blick zu. »Was haben Sie zu melden, Soldat?«
    »Ich habe Befehl, Sir, Ihnen auszurichten, dass der Oberbefehlshaber Sie um zwanzig Uhr bei sich zum Abendessen erwartet.«
    »Nachricht erhalten.« Ich will die Tür aufschließen.
    Er tritt vor, stellt sich mir in den Weg.
    Ich wende den Kopf, schaue ihn an.
    Er ist nicht einmal dreißig Zentimeter von mir entfernt, was eine deutliche Geste fehlenden Respekts ist; nicht einmal Delalieu gestattet sich so viel Nähe. Aber im Gegensatz zu meinen Soldaten halten sich die Männer meines Vaters für privilegiert. Zur Elitetruppe des Oberbefehlshabers zu gehören gilt als Ehre, und diese Soldaten nehmen nur von ihm Befehle entgegen.
    Und jetzt gerade versucht dieser Mann klarzustellen, dass er sich mir überlegen fühlt.
    Er ist neidisch. Hält mich für unwürdig, Sohn des Obersten Befehlshabers des Reestablishment zu sein. Das steht dem Mann förmlich ins Gesicht geschrieben.
    Ich muss mir das Lachen verkneifen, als ich in seine kalten grauen Augen und den schwarzen Abgrund blicke, der seine Seele ist. Er hat die Ärmel hochgerollt, stellt seine militärischen Tätowierungen zur Schau. Auf seinen Unterarmen befinden sich die mit Rot, Grün und Blau akzentuierten schwarzen Bänder, an denen er als ranghöherer Soldat zu erkennen ist. Ich habe mich diesem kranken Ritual der Brandmarkung immer entzogen.
    Er starrt mich immer noch an.
    Ich nicke, ziehe die Augenbrauen hoch.
    »Ich habe Weisung«, sagte er, »auf eine offizielle Zusage zu warten.«
    Ich überlege einen Moment, ob ich eine andere Wahl habe. Die habe ich nicht.
    Ich muss mich – ebenso wie die anderen Marionetten in dieser Welt – dem Willen meines Vaters unterordnen. Dieser Wahrheit muss ich tagtäglich ins Auge blicken: dass es mir bislang noch nie gelungen ist, mich dem Mann zu widersetzen, der mein Rückgrat fest umklammert hält.
    Und dafür hasse ich mich selbst.
    Ich werfe dem Soldaten einen weiteren Blick zu und frage mich, wie er wohl heißt. Dann merke ich, dass mich das nicht im Mindesten interessiert. »Betrachten Sie das als Zusage.«
    »Ja, S–«
    »Und beim nächsten Mal, Soldat, halten Sie einen Abstand von zwei Metern ein, sofern Sie nicht eine andere Weisung erhalten haben.«
    Er blinzelt verblüfft. »Sir, ich –«
    »Sie sind durcheinandergekommen«, falle ich ihm ins Wort. »Sie gehen davon aus, dass Sie durch Ihren Dienst für den Oberbefehlshaber eine Sonderstellung innehaben und die üblichen Regeln nicht zu beachten haben. Das ist ein Irrtum.«
    Er beißt die Zähne zusammen.
    »Sie sollten nie vergessen«, füge ich ruhiger hinzu, »dass ich jederzeit Ihren Job haben könnte, wenn ich es wollte. Und Sie sollten außerdem nie vergessen, dass der Mann, dem Sie so eifrig dienen, derselbe Mann ist, der mir das Schießen beigebracht hat, als ich neun Jahre alt war.«
    Seine Nasenflügel zittern. Er schaut starr geradeaus.
    »Überbringen Sie Ihre Nachricht, Soldat. Und merken Sie sich eines: Sprechen Sie mich nie wieder an.«
    Er steht stocksteif da, und sein Blick ist auf einen Punkt hinter mir gerichtet.
    Ich warte ab.
    Er hat immer noch die Zähne zusammengebissen. Hebt langsam die Hand zum Gruß.
    »Wegtreten«, sage ich.
    Ich schließe die Schlafzimmertür hinter mir ab, lehne mich dagegen. Ruhe mich einen Moment aus. Dann nehme ich die Flasche vom Nachttisch, schüttle zwei der eckigen Pillen heraus. Stecke sie mir in den Mund, warte, bis sie sich auflösen, schließe die Augen. Die Dunkelheit unter meinen Lidern ist eine Wohltat.
    Bis ihr Gesicht wieder vor meinem inneren Auge erscheint.
    Ich setze mich aufs Bett, stütze den Kopf in die Hände. Ich sollte jetzt nicht an sie denken. Ich muss Berge von Papierkram erledigen und dann noch mit der zusätzlichen Schwierigkeit fertigwerden, dass mein Vater sich hier aufhält. Mit ihm zu essen wird eine Katastrophe werden. Der reinste Psychoterror.
    Ich kneife die Augen zusammen und versuche wieder die Wände heraufzubeschwören, die mir dabei helfen, meine Gedanken zu klären. Aber diesmal funktioniert das nicht. Ständig habe ich Juliettes Gesicht vor Augen, und ihr Tagebuch in meiner Hosentasche scheint mich zu verhöhnen. Und nun merke ich auch, dass ein kleiner Teil von mir die Gedanken an sie gar nicht loswerden möchte. Ein kleiner Teil von mir genießt diese Qualen.
    Das Mädchen zerstört mich.
    Ein Mädchen, das fast ein Jahr lang in einer Irrenanstalt eingesperrt war. Ein Mädchen, das mich wegen eines Kusses

Weitere Kostenlose Bücher