Zerstöre mich
erschießen wollte. Ein Mädchen, das mit einem anderen Mann geflüchtet ist, nur um von mir wegzukommen.
Natürlich muss ich so einem Mädchen verfallen.
Ich presse die Hand auf den Mund.
Ich verliere den Verstand.
Ich ziehe meine Stiefel aus. Lasse mich aufs Bett sinken.
Hier hat sie geschlafen, denke ich. In meinem Bett. In meinem Bett ist sie aufgewacht. Sie war hier, und ich habe sie entkommen lassen.
Ich habe versagt.
Ich habe sie verloren.
Dass ich ihr Heft aus der Tasche genommen habe, merke ich erst, als ich es mir vor die Augen halte. Es anstarre. Den abgegriffenen Umschlag inspiziere und versuche mir vorzustellen, wo sie so etwas gekauft haben könnte. Sie muss es irgendwo gestohlen haben. Ich habe nicht die geringste Ahnung, wo.
So vieles will ich fragen. So vieles will ich ihr sagen.
Stattdessen schlage ich ihr Tagebuch auf und beginne zu lesen.
Manchmal schließe ich die Augen und streiche diese Wände in einer anderen Farbe.
Stelle mir vor, dass ich warme Socken an den Füßen habe und an einem offenen Kamin sitze. Stelle mir vor, dass mir jemand ein Buch gegeben hat, eine Geschichte, die mich von den Qualen meines eigenen Geistes erlöst. Ich will jemand anderes sein, anderswo, mit anderen Gedanken. Ich will rennen, will spüren, wie der Wind mein Haar zerzaust. Will mir einbilden, dass all das nur eine Geschichte in einer Geschichte ist. Dass diese Zelle nur eine Szene ist, dass diese Hände nicht meine sind, dass dieses Fenster zu einem schönen Ort führen würde, wenn ich es zerbrechen könnte. Ich bilde mir ein, dass dieses Kissen sauber und dieses Bett weich ist. Ich bilde mir alles Mögliche ein, bis die Welt unter meinen Augenlidern so atemberaubend ist, dass sie überfließt. Doch dann klappen meine Augen auf, und ich werde gewürgt von Händen, die mich ersticken ersticken ersticken
Meine Gedanken, so glaube ich, werden bald zu laut werden.
Mein Geist, so hoffe ich, wird bald gefunden werden.
Das Heft fällt mir aus der Hand, auf die Brust. Ich streiche
mir übers Gesicht, durch die Haare. Reibe meinen Nacken, setze mich ruckartig so weit auf, dass ich mir den Kopf am Bett stoße, wofür ich fast dankbar bin. Ich genieße einen Moment lang den Schmerz.
Dann greife ich wieder nach dem Heft.
Blättere um.
Ich frage mich, was sie denken. Meine Eltern. Ich frage mich, wo sie sind. Ich frage mich, ob es ihnen gut geht, ob sie glücklich sind , ob sie endlich haben, was sie wollten . Ich frage mich, ob meine Mutter noch ein Kind bekommen wird. Ich frage mich, ob jemand irgendwann so nett ist, mich umzubringen, und ob es in der Hölle angenehmer ist als hier. Ich frage mich, wie mein Gesicht inzwischen aussieht. Ich frage mich, ob ich jemals wieder frische Luft atmen werde.
Ich habe so viele Fragen in mir.
Manchmal bleibe ich tagelang wach und zähle alles, was ich finden kann. Die Wände, die Risse in den Wänden, meine Finger und Zehen. Die Bettfedern, die Fäden in der Decke, meine Schritte in der Zelle. Meine Zähne und die einzelnen Haare auf meinem Kopf und die Sekunden, in denen es mir gelingt, die Luft anzuhalten.
Aber manchmal werde ich auch furchtbar müde, und dann vergesse ich, dass ich mir nichts mehr wünschen darf, und dann wünsche ich mir das eine, wonach ich mich immer schon gesehnt habe.
Ich wollte immer schon eine Freundschaft haben.
Ich träume davon. Ich stelle mir vor, wie es wohl wäre. Zu lächeln und angelächelt zu werden. Einen Menschen zu haben, dem man sich anvertrauen kann; einen Menschen, der nicht Dinge nach mir wirft oder meine Hände ins Feuer legt oder mich schlägt, nur weil ich geboren wurde. Jemand, der hört, dass ich weggeschafft wurde, und der mich sucht. Jemand, der sich nicht vor mir fürchtet.
Jemand, der weiß, dass ich ihm niemals etwas antun würde.
Ich kauere mich in eine Ecke und lege den Kopf auf die Knie und wiege mich, vor und zurück vor und zurück vor und zurück und ich träume und träume und träume und wünsche mir Unerreichbares, bis ich mich in den Schlaf geweint habe.
Ich frage mich, wie es wäre, eine Freundschaft zu haben.
Und dann frage ich mich, wer hier wohl noch in dieser Anstalt eingesperrt ist. Ich frage mich, wo die anderen Schreie herkommen.
Ich frage mich, ob es meine eigenen Schreie sind.
Ich versuche klar zu denken, mir zu sagen, dass dies nur leere Worte sind, aber ich weiß, dass ich mich belüge. Diese Sätze zu lesen ist unerträglich, und mir vorzustellen, was Juliette durchlitten hat, ist
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