Zerstöre mich
vier Jahre alt. Durfte auf seinem Schoß sitzen und seine Taschen durchsuchen. Und alles behalten, was mich interessierte, sofern ich einen triftigen Grund dafür angeben konnte. Das war die Vorstellung meines Vaters von einem Spiel.
Doch das war alles vorher.
Ich ziehe meinen Mantel enger um mich, spüre den Stoff im Rücken. Zucke unwillkürlich zusammen.
Jetzt zählt nur noch das Leben, das ich habe. Die erdrückenden Zwänge, der Luxus, die schlaflosen Nächte, all die Toten. Man hat mich den Umgang mit Macht und Leid gelehrt. Macht gewinnen, Leid zufügen.
Ich bereue nichts.
Ich ertrage alles.
Nur so kann ich in diesem versehrten Körper leben. Ich vertreibe aus meinem Geist, was mich plagt und belastet. Und freue mich an den wenigen angenehmen Dingen, die mir begegnen. Ich weiß nicht, was ein normales Leben ist; weiß nicht, was die Bürger empfinden, die ihre Häuser verloren haben. Weiß nicht, wie ihr Dasein aussah, bevor das Reestablishment an die Macht kam.
Deshalb bin ich gerne in den Siedlungen unterwegs.
Ich sehe gerne, wie die Bürger leben; es gefällt mir, dass sie mir von Gesetz wegen meine Fragen beantworten müssen.
Aber heute ist mein Timing schlecht.
Ich habe nicht auf die Uhr geschaut, bevor ich den Stützpunkt verließ. Bald geht die Sonne unter. Die meisten Leute gehen nach drinnen, eilen im eisigen Wind gebückt zu den Containerblöcken, in denen immer mindestens drei Familien untergebracht sind.
Die behelfsmäßigen Unterkünfte bestehen aus Schiffscontainern, die in Vierer- oder Sechsergruppen Seite an Seite und übereinander aufgestellt wurden. Jeder Container wurde wärmeisoliert und mit zwei Fenstern und einer Tür versehen. Solarzellen auf dem Dach versorgen jeden Block mit Strom.
Darauf bin ich stolz.
Weil diese Idee von mir stammt.
Als wir nach einer provisorischen Unterbringung für die Bürger suchten, schlug ich vor, leere Schiffscontainer zu benutzen, die an jedem Hafen der Welt herumstehen. Sie sind nicht nur kostengünstig und leicht herstellbar, sondern auch leicht transportierbar, stapelbar und stabil. Man muss sie nur gering modifizieren, und mit einem guten Team kann man binnen Tagen Tausende von Unterkünften schaffen.
Ich hatte die Idee damals meinem Vater vorgeschlagen, weil ich sie für die beste Option hielt – eine vorübergehende Lösung, die besseren Schutz bot und weniger grausam war als Zelte. Doch dann erwies sich die Idee als so praktikabel, dass das Reestablishment diese Unterkünfte beibehielt. Allein auf diesem Gelände, einer einstigen Mülldeponie, stehen Tausende von Containern – rechteckige Kästen, die man leicht überwachen kann.
Den Bürgern versucht man noch immer weiszumachen, dass dies nur Notunterkünfte sind. Dass sie eines Tages in ihr einstiges Leben zurückkehren können und alles wieder schön und gut wird. Doch das sind Lügen.
Das Reestablishment hat nicht die geringste Absicht, etwas an den Siedlungen zu ändern.
Die Menschen sind hier auf diesem überwachten Gebiet zusammengepfercht; ihre Container sind zum Gefängnis geworden. Alles wurde mit Zahlen versehen. Die Menschen, ihre Unterkünfte, ihr Wichtigkeitsgrad für das Reestablishment.
Die Bürger wurden zum Teil eines gigantischen Experiments funktionalisiert. In einer Welt, in der sie arbeiten müssen, um die Bedürfnisse eines Regimes zu erfüllen, das ihnen Versprechungen macht, die es niemals einlösen wird.
Das ist mein Leben.
Diese trostlose Welt.
An den meisten Tagen fühle ich mich genauso eingepfercht wie diese Bürger; und vermutlich komme ich deshalb hierher. Es ist, als laufe man von einem Gefängnis zum nächsten – ein Dasein ohne Hoffnung, ohne Zuflucht. Ein Dasein, in dem sogar mein eigener Geist ein Verräter ist.
Ich müsste viel stärker sein.
Seit einem Jahrzehnt trainiere ich. Jeden Tag arbeite ich an der Verbesserung meiner körperlichen und geistigen Fähigkeiten. Ich bin 1,75 groß, bestehe aus 55 Kilo Muskelmasse. Ich bin für Ausdauer, Zähigkeit, Überleben geschaffen und fühle mich am wohlsten mit einer Waffe in der Hand. Ich kann hundertfünfzig unterschiedliche Feuerwaffen zerlegen, reinigen, laden. Ich treffe jedes Ziel aus fast jeder Distanz. Ich kann mit einem einzigen Handkantenschlag jemandem die Luftröhre zerquetschen und nur mit meinen Fingerknöcheln jemanden außer Gefecht setzen.
Im Kampf kann ich alles andere in mir ausschalten. Ich gelte als kaltes, gefühlloses Monster, das nichts fürchtet und nichts
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