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Zerstöre mich

Zerstöre mich

Titel: Zerstöre mich Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Tahereh H. Mafi
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achtet.
    Doch das ist ein Trugbild.
    Denn in Wirklichkeit bin ich ein Feigling.

14
    Die Sonne geht unter.
    Bald wird mir nichts anderes übrig bleiben, als zum Stützpunkt zurückzukehren, wo ich stillsitzen und meinem Vater zuhören muss, anstatt ihm eine Kugel in den offenen Mund zu jagen.
    Deshalb schinde ich Zeit.
    Aus einiger Entfernung beobachte ich die Kinder, die herumrennen und von ihren Eltern nachhause gescheucht werden. Eines Tages werden diese Kinder alt genug sein, um zu merken, dass sie durch ihre Registrierungskarten überallhin verfolgt werden können. Dass der Umgang mit dem Geld, das ihre Eltern in irgendeiner Fabrik verdienen, in die man sie gesteckt hat, genauestens überprüft wird. Diese Kinder werden verstehen, dass jeder ihrer Schritte beobachtet wird, dass jede Unterhaltung als Rebellion ausgelegt werden kann. Jetzt wissen sie noch nicht, dass es über jeden Bürger eine Akte gibt, in der Freundschaften, Beziehungen, Arbeitsgewohnheiten und sogar die Freizeitbeschäftigungen vermerkt sind.
    Wir wissen alles über jeden.
    Wir wissen zu viel.
    Deshalb vergesse ich manchmal, dass wir es mit echten, lebendigen Menschen zu tun haben – bis ich ihnen in den Siedlungen begegne. Ich habe mir die Namen fast aller Bürger von Sektor 45 gemerkt. Ich lege Wert darauf zu wissen, wer in meinem Zuständigkeitsbereich wohnt, ob es nun Soldaten oder Zivilisten sind.
    Deshalb weiß ich zum Beispiel auch, dass der Gefreite Seamus Fletcher, 45B-76423, jeden Abend seine Frau und seine Kinder schlug.
    Ich wusste, dass er seinen gesamten Sold für Alkohol ausgab und seine Familie verhungern ließ. Ich hatte den Weg der RE-Dollars verfolgt, die er in den Versorgungszentren ausgab, und seine Familie beobachtet. Ich wusste, dass seine drei Kinder unter zehn Jahre alt waren und seit Wochen nichts gegessen hatten; ich wusste, dass sie wiederholt wegen Stichwunden und Knochenbrüchen beim Arzt der Siedlung gewesen waren. Ich wusste, dass Fletcher seiner siebenjährigen Tochter mit einem Fausthieb die Lippe gespalten, den Kiefer gebrochen und ihr beide Schneidezähne ausgeschlagen hatte. Und ich wusste, dass seine Frau schwanger gewesen war. Bis er sie eines Abends so schlimm verprügelt hatte, dass sie das Kind am nächsten Morgen verlor.
    Das wusste ich durch einen Besuch in den Siedlungen.
    Ich hatte mich in jedem Block über den Gesundheitszustand der Bürger und ihre Lebensumstände informiert. Hatte mich nach ihren Arbeitsbedingungen erkundigt und gefragt, ob jemand aus ihrer Familie krank war und vielleicht in Quarantäne musste.
    Sie war an jenem Tag zuhause. Fletchers Frau. Ihre Nase war gebrochen, beide Augen waren zugeschwollen. Sie war so knochig und bleich, dass es mir vorkam, als würde sie entzweibrechen, wenn sie sich nur hinsetzte. Aber als ich mich nach ihren Verletzungen erkundigte, wich sie meinem Blick aus. Sagte, sie sei gestürzt und habe dabei eine Fehlgeburt gehabt und sich die Nase gebrochen.
    Ich nickte. Dankte ihr für ihre bereitwillige Auskunft.
    Dann rief ich zum Appell.
    Ich bin im Bilde darüber, dass die Mehrheit meiner Soldaten Vorräte aus den Lagern stiehlt. Die Bestände werden von mir sorgfältig überprüft, und ich merke, dass ständig Posten verschwinden. Normalerweise unternehme ich nichts gegen diese Verstöße, weil sie das System nicht unterminieren. Ein paar Brote oder Seifenstücke halten meine Soldaten bei Laune; wenn sie gesund sind, arbeiten sie besser, und die meisten haben außerdem Partner, Kinder, Verwandte zu versorgen. Dieses Zugeständnis mache ich.
    Aber einiges verzeihe ich nicht.
    Ich erachte mich nicht als moralisch integer. Ich habe keine Lebensphilosophie und schere mich nicht um die meisten Regeln und Vorgaben, mit denen sich die Leute beschäftigen. Ich behaupte auch nicht, den Unterschied zwischen Richtig und Falsch ermessen zu können. Aber ich lebe nach einem gewissen Verhaltenscode. Und ich denke, dass man manchmal wissen muss, wann man zuerst schießt.
    Seamus Fletcher war im Begriff, seine Familie umzubringen. Und ich habe ihn erschossen, weil ich das gnädiger fand, als ihn eigenhändig in Stücke zu reißen.
    Doch mein Vater machte weiter, als Fletcher aus dem Weg geräumt war. Mein Vater ließ drei Kinder und ihre Mutter erschießen, nur wegen des besoffenen Dreckskerls, von dem ihre Existenz abhing. Wegen ihm wurden sie brutal ermordet.
    An manchen Tagen frage ich mich, weshalb ich überhaupt am Leben bleiben will.

15
    Sobald ich wieder im

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