Zerstörte Seelen
Zeit vergangen. Außerdem deuteten der schwarze Stumpf und die Schwellung an der rechten Hand darauf hin, dass die Wunde provisorisch ausgebrannt worden war, um die Blutung zu stillen. Damit waren die Nervenstränge weitgehend zerstört. Darby kämpfte gegen ein wachsendes Gefühl der Übelkeit an.
Casey hatte ein Longdrinkglas auf den Knien. Er war nicht betrunken – als er aufblickte und Darby fixierte, wirkten seine Augen klar –, doch er war auf dem besten Weg dazu. Neben ihm stand eine mehr als halbleere Whiskeyflasche.
Casey betätigte die Pausentaste an der Fernbedienung. Er schien darauf zu warten, dass sie etwas sagte. Am liebsten hätte sie ihm versichert, wie furchtbar leid ihr alles tat, was im Augenblick passierte. Aber vermutlich würde er das nicht hören wollen. Sie beschloss, sich an die Fakten zu halten.
«Hat Sergey Ihnen von der Tätowierung erzählt, die ich auf Mark Rizzos Innenlippe entdeckt habe?»
Er nickte.
«Ich habe gerade noch eine weitere gefunden. Auf der Brust des ehemaligen Cops, der bei der Charlie-Rizzo-Ermittlung mitgearbeitet hat.»
«Der Cop aus Nahant, der erschossen wurde?»
Sie nickte. «John Smith.»
«Interessant.»
Caseys Aufmerksamkeit galt verständlicherweise vor allem dem Video. Seiner Tochter. Darby beschloss, ihm noch nichts von dem Inhalt ihres Gesprächs mit dem Harvard-Professor zu sagen.
Sie setzte sich neben Casey. «Sergey sagte mir, das Video sei auf dem USB -Stick gewesen.»
«Hmm.»
«Sonst noch etwas?»
«Nur das. Der Stick ist unten. Die Computercracks nehmen in gerade unter die Lupe, suchen nach irgendwelchen digitalen Fingerabdrücken. Ein anderes Team analysiert das Video Bild für Bild. Sie verwenden unterschiedliche Lichtquellen, wollen sehen, ob sich irgendein verwertbarer Hinweis ergibt.»
Casey leerte sein Glas. Die halb geschmolzenen Eiswürfel klirrten. Er griff nach der Flasche. Darby betrachtete das Standbild auf dem Monitor: Sarah Casey trommelte an die Plastikwand, die Lippen zu einem Schrei der Angst und des Entsetzens verzogen.
«Wie viel Zeit bleibt ihr noch?» Casey schenkte sich einen Drink ein.
«Die Frage können Sie selbst vielleicht am besten beantworten. Sie kennen diese Leute …»
«Ich spreche von ihrem Finger. Wie schnell muss er wieder angenäht werden?»
«Ich bin kein Chirurg.»
«Aber Sie kannten sich gut genug aus, um den Finger meiner Tochter rüber ins Mass General zu schicken.»
«Sechs, vielleicht acht Stunden, nachdem er abgetrennt wurde.»
«Und wenn meine Tochter wie durch ein Wunder jetzt in diesem Augenblick gefunden würde?»
Es wäre sinnlos gewesen, ihn anzulügen. «Ich glaube, es ist zu spät.»
«Warum?»
«Die Wunde wurde ausgebrannt. Um aber den Finger wieder annähen zu können, müssen die Nervenenden intakt sein.»
Casey nickte mit versteinerter Miene. Anscheinend war ihm nicht bewusst, dass er immer weiternickte.
«Dr. Izzo hat mir dasselbe gesagt», sagte er einen Augenblick später. «Er hat mich vor einer Stunde angerufen und mir erklärt, das Zeitfenster für eine erfolgreiche Operation habe sich nunmehr geschlossen.»
Darby bemühte sich um einen neutralen Tonfall. «Wenn Sie das bereits wussten, warum fragen Sie mich dann?»
«Um zu sehen, ob Sie mir irgendwelchen Mist erzählen würden.»
«Dann war das ein Test?»
Schweigen. Casey ließ den Whiskey im Glas kreisen. Die Eiswürfel klirrten. Er sah sich in der Kabine um. «Das ist eine alte Air Force One, eine von zweien, die für den Krieg gegen den Terror umgerüstet wurden. Technik vom Allerfeinsten an Bord. Wir mussten uns mit dem FBI anlegen, damit wir die Maschine benutzen durften. Aber die Leute, hinter denen wir her sind, fallen doch in die Kategorie ‹Terrorismus auf heimischem Boden›, oder nicht?»
Darby nickte, schlug die Beine übereinander und wartete.
«Ich schaue mir diese wunderbare technische Ausstattung an und sehe eins, was sie nicht kann: das Motiv einer Person verstehen», sagte Casey. «Ich spreche nicht von Serienkillern oder von der Gruppe, die jetzt in diesem Augenblick meine Tochter und meine Frau in ihrer Gewalt hat. Ich meine das ganz allgemein. Denken Sie an die Hausfrau, die nach zweiunddreißig Ehejahren eines Morgens aufsteht und beschließt, ihre Sachen zu packen und ihren Mann und die Kinder zu verlassen. Man weiß nie, was wirklich im Kopf eines Menschen vor sich geht. Wenn man in der Monsterfabrik arbeitet, wird einem das schnell klar. Anfangs sprach man noch von der
Weitere Kostenlose Bücher