Zerstörte Seelen
Nur die Schreie der Frau gellten aus den Lautsprechern.
Dass das Telefon klingelte, merkte Darby erst, als Casey aus dem Sessel sprang.
Sie setzte die DVD zurück an die Stelle, wo sie im linken unteren Bildschirmviertel den schwarzen Schatten gesehen hatte. Mehr konnte sie immer noch nicht erkennen. Noch einmal ging sie an dieselbe Stelle zurück und hielt den schwarzen Fleck als Standbild fest. Sie stand auf. Ihr war kalt, und ihre Knie zitterten. Sie trat näher an den Bildschirm heran.
Viel konnte sie nicht sehen, nur die schwachen Umrisse von etwas, das auch ein digitaler Übertragungsfehler vom Stick auf die DVD sein konnte.
«Sergey will mit uns reden», sagte Casey. «Angeblich haben Sie gefordert, dass man mich von dem Fall abzieht.»
Darby machte den Mund auf, doch Casey ließ sie nicht zu Wort kommen. «Ich kann Ihnen deshalb keinen Vorwurf machen», sagte er. «Sie haben recht. Ich bin zu nahe an der Sache dran. Offensichtlich.»
«Was würden Sie tun, wenn Sie eine dieser Gestalten oder auch die ganze Gruppe kriegen könnten?»
«Sie verhaften natürlich.»
«Schade eigentlich.»
«Wie meinen Sie das.»
«Weil ich vorhabe, diese Leute zu töten», sagte Darby. «Jeden Einzelnen von ihnen.»
68. Kapitel
Auf dem Weg durch einen weiteren, nur schummrig beleuchteten Raum gab Darby Casey eine Zusammenfassung ihres Gesprächs mit Ronald Ross. Die Stockbetten in diesem Abteil erinnerten an eine Kaserne, nur dass sich hier die Lager von den Wänden ausklappen ließen und mit Sicherheitsgurten versehen waren. Darby folgte Casey eine Treppe hinab. Unten öffnete er die Tür zu einem Raum, der in ein weiches, angenehmes Licht getaucht war.
Diese Kabine wirkte riesenhaft. Die Wände waren mit dunklem Holz getäfelt; überall standen einladende, wiewohl schon etwas abgeschabte braune Lederclubsessel und kleine Mahagonitische. Die gesamte Fußbodenfläche war mit einem Orientteppich in weinroten, waldgrünen und dunkelbraunen Tönen ausgelegt, der deutliche Gebrauchsspuren zeigte. Die Atmosphäre erinnerte an den Harvard Club in der Bostoner City. Obwohl er sich in einem Flugzeug befand, war der Salon auf seine Art so elegant und luxuriös wie der Bankettsaal im Four Seasons. Doch anders als dort waren die Gäste hier Tote und Vermisste.
Darby starrte die jungen Gesichter in Schwarzweiß und Farbe an, die Gesichter Hunderter von Kindern, deren Fotos sie von Wänden und Korktafeln herab anschauten. Die Bildergalerie erstreckte sich zu beiden Seiten fast über die gesamte Länge des Raumes.
Die Fotos waren nach Jahren geordnet. Auf dem Schild über der Korkwand gleich rechts stand ‹1945–1972›. Dicht an dicht hingen hier alte, vergilbte Polaroidschnappschüsse und abgegriffene Schwarzweißaufnahmen. Jedes Kind hatte einen Namen. Neben jedem Namen stand ein Fragezeichen. Alle diese Kinder waren in Washington entführt worden. An der nächsten Tafel – ‹1973–1975› – hingen die Bilder von Kindern aus Oregon. Daneben ein Brett für Kalifornien. Auf dem dazugehörigen Schild standen die Jahreszahlen ‹1976–1981›.
Die Zeit, in der Casey in die Ermittlungen einstieg
, dachte sie.
Washington, dann Oregon und Kalifornien. Die Westküste.
In der Nähe der Tür hingen zwei große, breite Korktafeln mit Farbfotos von aktuelleren Entführungsopfern – 2009 und 2010.
Langsam ging Darby an den Bildern vermisster Kinder aus den vergangenen Jahren entlang.
Genau wie im Traveler-Fall
, dachte sie.
Aberhunderte von Bildern über viele Jahrzehnte hinweg verschleppter Opfer.
Aber der Traveler hatte vorwiegend Jagd auf Frauen gemacht – auf Teenager, auf Frauen in den Zwanzigern und Dreißigern. Nur eine Handvoll war Ende vierzig bis Anfang fünfzig gewesen. Später hatte sie herausgefunden, dass alle diese Frauen Zufallsopfer waren, auf dem Heimweg oder auf dem Weg zu ihren Autos von der Straße weg entführt. Gestorben waren sie im unterirdischen Horrorverlies des Travelers.
An diesen Tafeln hingen hingegen die Bilder von kleinen Kindern, von Jungen und Mädchen verschiedener ethnischer Herkunft und aus unterschiedlichen Schichten. Was hatte Sergey ihr gesagt? Casey hatte entdeckt, dass das gekidnappte Kind immer das jüngste Mitglied der Familie war. Diesen Entführungen lag offenbar ein sorgfältiger Auswahlprozess zugrunde. Die über dreihundert Kinder, die mit Zahnlücken von den Bildern in diesem grausigen Mausoleum grinsten, hatten ein gemeinsames Merkmal.
Auf der Tafel mit dem Schild
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