Zerstörte Seelen
dürfen. Sie wusste natürlich, dass er längst über alle Berge war, doch sie wollte hinausgehen, die Stelle finden, von der aus er geschossen hatte, und sich dort nach Patronenhülsen umsehen. Sie wollte sich nützlich machen, nicht hier stehen, in der Nase bohren und darauf warten, bis John Lu, der Detective, den die Mordkommission von Nahant hergeschickt hatte, noch einmal Zeit fand, mit ihr zu reden.
«Müssen Sie vielleicht auf die Toilette?», fragte Davis. «Oder möchten Sie ein Glas Wasser?»
Ich will die Flasche Bushmills Irish Whiskey, die auf Smiths Küchentheke steht.
«Wasser wäre nicht schlecht», sagte sie.
«Sie rühren sich nicht von der Stelle, okay? Keine Ausflüge.»
Darby nickte. Sie sah zu den beiden Kriminaltechnikern aus dem Springfielder Labor hinüber, die gerade Detailaufnahmen von dem toten ehemaligen Ermittler machten. John Smiths Körper lag in einer Lache aus langsam erkaltendem Blut, das sich über den hell erleuchteten Boden des Balkons ausgebreitet hatte und nun in die Tiefe tropfte. Die Techniker hatten junge Gesichter, eine gute Ausrüstung und schienen zu wissen, was sie taten.
Der Wind, der vom Meer heraufwehte und durch die zerschossenen Fenster pfiff, wurde langsam schwächer. Darby hörte die Techniker leise miteinander sprechen, hörte Möwengekreisch, das Knacken und Rauschen von Polizeifunkgeräten und das Klingeln von Handys.
Die Welpen bellten nun nicht mehr. Vermutlich hatte man sie irgendwo eingesperrt.
«Dr. McCormick.»
Nicht Davis. Detective Lu war zurück. Der Polizist mit den asiatischen Zügen hielt Darby ein Glas Wasser mit klimpernden Eiswürfeln hin.
Sie bedankte sich. Ihr fiel auf, dass er ihren Titel benutzt hatte, dabei hatte sie dem Mann nichts von ihrem Doktor in forensischer Psychologie gesagt. Anscheinend hatte Lu ein paar Anrufe getätigt und kannte nun auch ihren Status bei der Bostoner Polizei.
«Smiths Frau?», fragte sie.
Lu schüttelte den Kopf.
«Hat zu viel Blut verloren», sagte er. «Sie starb auf dem Weg zum Krankenhaus.»
Obwohl sie noch ein klein wenig Hoffnung gehabt hatte, war Darby nicht wirklich überrascht. Nachdem Darby die Treppe zum Untergeschoss gefunden hatte, hatte sie durch die Fenster in den von Flutlichtern hell erleuchteten Garten sehen können. Die kleine zierliche Frau mit dem lockigen grauen Haar lag in ihrem North-Face-Parka auf der Seite auf dem Rasen und schrie. Ihre arthritischen Hände gruben sich in das zerfetzte Fleisch ihres blutigen Oberschenkels. Die Welpen bellten. Vier von ihnen, vielleicht auch mehr, drängten sich um die Frau, leckten ihr Gesicht oder schmiegten sich an sie. Und Mavis Smith wollte die Hundebabys trotz der unmenschlichen Schmerzen, trotz ihrer Angst und obwohl sie sich in einer Art Schockzustand befinden musste, noch schützen. Sie versuchte, die Welpen zu der offenen Tür unter dem Balkon zu scheuchen.
Darby entdeckte den Schalter für das Flutlicht und machte es aus. Sie wusste, warum der Frau ins Bein geschossen worden war: Der Schütze benutzte Mavis Smith als Köder; er wollte Darby aus dem Haus locken.
Sein Plan ging auf. Darby rannte hinaus ans Ende des Gartens und feuerte blind in die Richtung, aus der die Schüsse vermutlich gekommen waren. Der Schütze musste sich irgendwo zwischen den Bäumen auf der anderen Straßenseite befinden. Sie hoffte, dass das Mündungsfeuer ihn für kurze Zeit blenden würde und hatte Glück. Mit einer Hand packe sie die Kapuze des Parkas, schoss immer weiter und weiter und schleifte die schreiende Frau dabei hinter sich her über den Rasen. Darby ließ den Finger am Abzug, bis das Magazin leer war. Sie schloss die Tür zum Untergeschoss hinter sich und der Frau, dann zerrte sie ihr den Parka vom Leib. Draußen kratzten die Welpen, bellten und fiepten. Mavis Smith schrie immer wieder: «Ich muss Paula anrufen. Ich muss Paula anrufen.»
Nicht zwei Schusswunden, sondern drei. Smiths Frau war unterhalb der rechten Brust getroffen worden. Darby band ihr mit ihrem Gürtel den Oberschenkel ab und bedeckte die schmatzende Brustwunde mit einem Müllsack aus Plastik, damit die Lunge nicht zusammenfiel. Sie blieb bei der Frau, drückte die Hand auf ihre Wunde und sah das Blut zwischen ihren Fingern hindurchquellen. Sie bat Mavis Smith, ganz ruhig zu bleiben. «Paula. Ich muss Paula anrufen», flüsterte die Frau ununterbrochen, bis die Sanitäter kamen.
Darby trank das Wasser mit einem langen Zug aus. Sie wusste, wie leichtsinnig es gewesen war,
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