Zerteufelter Vers (German Edition)
fuhr bereits fort: »Hast du einen Wunsch, den du gerne erfüllt hättest?« Sie dachte augenblicklich daran, dass sie sich die gesamte letzte Zeit gewünscht hatte, mit ihm zusammen sein zu können, aber das wollte sie lieber nicht sagen und zuckte mit den Schultern. »Mmh… Du musst irgendeinen Wunsch gehabt haben, sonst hätte sie dir so etwas nicht geschrieben.« »Sie?«
Gloria schaute Kirt verdutzt an. Er verbesserte sich: »Sonst hätte dir das Buch so ein Gedicht nicht geschrieben.« »Du hast gerade ‹sie› gesagt!« Gloria sah ihn teuflisch an. »Ich sag´ dir das, was ich in Ordnung finde, schon vergessen? Mehr nicht!« Gloria presste die Lippen aufeinander und akzeptierte vorerst seine Worte. Insgeheim hoffte sie, dass er sich noch einmal verplappern würde! »Es geht also um Wünsche, ja?« »Na ja, eigentlich nur am Rande.« Kirt nahm das Buch wieder zu sich und las die erste Strophe vor. »Gewänder strahlenden Glücks, wiegen sich sanft in der Dunkelheit. Zapfen stiller Träume, geschickt von den Menschen in der Nacht.« Er überlegte, wie er Gloria am ehesten erklären konnte, worum es ging. »Stell´ dir einfach vor, es gäbe eine richtige Grotte – irgendwo im Nichts – wie eine Tropfsteinhöhle. Und die Zapfen, die sich dort gebildet haben, bestehen aus Träumen und Wünschen, die die Menschen ins Universum oder im Gebet an Gott geschickt haben. Und jetzt stell´ dir vor, dass ein klitzekleiner Teil dieser Träume ins Leben getaucht wird…«
Gloria sah ihn mit hilflosem Blick an. »Ins Leben getaucht? Wenn deine Erklärungen genauso undurchsichtig werden, wie das Gedicht selbst, verstehe ich es nicht!« Kirt lächelte. »Tut mir leid, es ist auch nicht so einfach, das ganze zu erklären.« Er schmunzelte und lächelte sie wieder an, ehe er fortfuhr. »Also stell´ dir eine Tropfsteinhöhle vor. Diese Höhle hat keinen Boden und keine Decke – sie ist unendlich, genauso wie der Kreislauf zwischen Leben und Tod. Die Zapfen der Träume sind vergleichbar lang wie es jemals Wünsche auf der Welt gegeben hat. Hast du dich mal gefragt, wohin Gedanken oder Träume gehen, wenn du sie dir vorgestellt hast?« Gloria lächelte belustigt. »Erzähl´ mal weiter.« »In diesem Gedicht ist der Wunsch ganz offenbar der nach Überlebe n oder dem neuen Leben.«
»Ich dachte mir, dass es vielleicht um die Geburt eines Menschen geht, wegen der zweiten Strophe…« Gloria rutschte näher zu Kirt, um mit ihm zusammen in das Buch sehen zu können. »Das meine ich: Leben und Leben schenken, zärtlicher Samt umhüllt die Melodie. Wünsche und Angst, Kopf oder Zahl.« Gloria sah Kirt fragend an. »Da liegst du genau richtig. Ich weiß ja nicht, worüber du dir den ganzen Tag so den Kopf zermarterst. Aber da du ja schon versucht hast, den Tod zu verhindern…« Kirt blickte Gloria an – sie dachten wahrscheinlich gerade beide an die Jansen-Aktion, ehe Kirt weitersprach: »Könnte ich mir vorstellen, dass das Thema Geburt eine Kehrseite darstellen soll und ein Beispiel für die zig Träume ist, die die Menschen ans Universum schicken.« Kirt zuckte mit den Schultern.
»Man muss auch nicht alles verstehen!« Er lachte und fuhr fort: »Stell´ dir das reinste und lieblichste Wort vor, das du kennst und verrat´ mir, wie du ein Kind nennen würdest, bevor es überhaupt geboren wird.« Gloria fand das ganze schon wieder etwas überzogen und Kirt machte es kurz: »Ich denke, das ist gemeint mit der Melodie. Denn vielmehr ist es noch nicht: Das künftige, neue Leben.« Er lächelte. » Kopf oder Zahl ist klar, oder?« Gloria sah ihn an. »Mädchen oder Junge?« »Na ja – so ungefähr. Hop oder top… Es gibt immer nur entweder oder – schwanger oder nicht schwanger, Junge oder Mädchen, Leben oder Tod… Und damit verbunden sind eben auch Wünsche und Ängste. Also, wenn wir weiter so lange über eine Strophe reden, sind wir morgen noch nicht fertig.« Gloria nickte ihm zu: »Erzähl´ weiter.«
»Und ruhig legt sich der Schleier glitzernder Stille über die Silhouette reinen Lebens, aller Sinne, aller Mächte, getragen von den Klängen unendlicher Weite. Es fällt und umhüllt sein Geheimnis… An jenem Ort, der sich deiner verschließt. Der Grotte heimlichen Lebens, des Todes Geschwisterchen sät… Mit der letzten Zeile ist nur gemeint, dass es zum Tod auch immer ein Gegenstück gibt und dieser Kreislauf nie aufhören wird. Sag´ mal, hast du dir ernsthaft Hoffnungen gemacht, den Tod verhindern zu können? –
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