Zerteufelter Vers (German Edition)
Was bildete es sich ein, wer steckte dahinter? Plötzlich packte Gloria derart der Zorn, dass sie nach dem Buch griff und es so fest sie konnte, gegen die Steine am Ufer schleuderte. Sie hob es erneut auf und schlug es gegen einen Mülleimer – sollte es ruhig kaputt gehen! Gloria riss einzelne Seiten heraus, knüllte sie zusammen und warf sie von sich. Sie schmetterte das Buch auf den Boden und trat dagegen; so fest sie konnte. Immer, immer wieder – bis es verramscht in einer Dreckecke liegen blieb.
Gloria drehte sich um, ließ es, wo es war, und ging zurück zu ihrem Sitzplatz von eben. Außer Atem schaute sie auf den Rhein. Als sie den ersten Tag nach Düsseldorf gekommen war, hatte sie es genossen, der Strömung zuzusehen. Wasser besaß immer schon eine beruhigende Wirkung auf sie. Aber jetzt? Nichts konnte das Wissen um ihren eigenen Tod mindern. Es wirkte eingebrannt, versiegelt und unwiderruflich in ihr Herz gemeißelt. Ob sie ihre Mutter wiedersehen würde? Ob ihr Vater Glorias Tod verkraftete oder ob es nur noch eine Frage der Zeit war, bis auch er ihnen nachfolgte? Ob ein Fluch auf ihnen lag? – Ach, nee… Das hatte das Buch ihr ja bereits geschrieben. Gloria war so wütend. Sie kannte die Zeile nur zu genau, in der es geheißen hatte, dass kein Fluch ihr Denken begrub. – Von wegen; das Buch an sich bildete ja schon einen Fluch! Gloria schaute auf das Wasser und nahm seine Geschwindigkeit wahr. Alles wirkte vergänglich. Alles!
Gloria fragte sich, ob es überhaupt etwas gab, das nicht starb, doch nichts fiel ihr ein, außer vielleicht einer kleinen Sache – die Liebe. Die Liebe war das einzige, was blieb, wenn man einen Menschen verlor. Und die Liebe war auch das einzige, was das Leben lebenswert machte. Glück schien nur dann wirklich schön zu sein, wenn man es teilte… Eine Stunde lang saß Gloria auf diesem Stein. Eine Stunde lang dachte sie nach; die immer gleichen Gedanken… Vielleicht war es das Beste, so schnell wie möglich zu ihrem Vater zu fahren. Ihre Uhr tickte und die Zeit, die Gloria noch blieb, sollte sie wohl eher ihrem Vater widmen. Aber wie könnte sie ihm entgegnen, wenn er fragte, was sie bedrückte? Sollte sie ihm etwas vorspielen? – Ihn liebhalten und die heile Welt mimen? Das war doch alles verlogen!
Gloria dachte an die Geschichte mit dem kleinen Schmetterling. Ehrlichkeit war das Pflaster jedes Lebenstores! Das Buch hatte irgendwann mal geschrieben, dass weder der Tod noch die Gedichte selbst gegen sie waren. Aber es hatte auch geschrieben, dass sie gar nicht erst versuchen sollte, ihre Kräfte mit denen des Buches zu messen. – Wie arrogant! Gloria war so wütend. Aber die Wut half ihr nicht weiter. Sie blickte lange aufs Wasser. Das einzige, was sie noch spürte, war eine endlose Leere; alle Sinne taub und abgeschnitten. – Durchtrennt von einer simplen Buchseite; von einer starren Wahrheit. Gloria spürte ihr Handy vibrieren, noch bevor der Klingelton einsetzte. Sie zog es aus der Tasche und schaute auf das Display: Es war ihr Vater und sie fragte sich, ob sie rangehen oder es besser bleiben lassen sollte. Nach kurzem Zögern ging sie schließlich ans Telefon. Ihre Stimme zitterte und klang leise: »Hallo?« »Gloria?« »Ja…« Ihre Hände begannen ebenfalls zu zittern. Sie war so erleichtert, seine Stimme zu hören.
»Gloria, ich hab´ dich lieb!« Er hörte sich traurig und verzweifelt an. »Was habe ich denn falsch gemacht? Bitte…« Gloria spürte wieder die Leere in sich und Tränen rollten stumm über ihre Wangen. »Du hast doch nichts falsch gemacht, Papa.« »Warum kommst du dann nicht nach Hause?« Gloria hielt an sich, damit er nicht merkte, dass sie weinte. Sie wurde so traurig, dass sie verzweifelt auf ihre Finger biss.
»Gloria?« Es half nichts. Sie durfte es ihm nicht sagen. Und wenn, dann zumindest nicht am Telefon. »Ich hab´ dich auch lieb, Papa.« »Darf ich dich holen kommen?« Gloria verstummte und wartete ab. Eine Möwe flog dicht über sie hinweg und Gloria sammelte sich. »Ich glaube, ja.« Auf der anderen Seite wurde es still, aber es schien unumstritten, dass er sich freute. »Papa?« »Ja?« »Was würdest du machen, wenn dir jemand erzählt, dass du nur noch ein paar Monate zu leben hättest?« »Ist alles okay bei dir?« Auf der Stelle hörte er sich so besorgt an, dass es Gloria einen Stich ins Herz versetzte. Sie konnte es einfach nicht über sich bringen, ihm von dem Buch zu erzählen.
Der Tod war schon schlimm genug.
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