Zerteufelter Vers (German Edition)
gänzlich herausgerissen aus der Sackgasse, in die sie von ihren wütenden Gedanken getrieben wurde. Die Gedichte, die sie spontan umtextete, hatten selbst ihr Trost gespendet und Gloria steckte seufzend das Handy zurück in die Tasche. Da stand sie nun: In der einen Hand das Buch, in der anderen ihren Rucksack – allein mit sich selbst in Herrgottsfrühe, irgendwo am Rheinufer.
Sie atmete tief ein, ging ein paar Schritte den Fluss entlang und wurde immer schneller. Es tat gut zu laufen und so spurtete Gloria den Weg entlang. Sie rannte sich fast die Lunge aus dem Leib bis sie schließlich nicht mehr konnte und erschöpft langsamer wurde. Was sollte sie nur tun?
Zeit war nur ein undefinierbares Werkzeug des Lebens… Oder das des Todes – je nach dem, wie man es sehen wollte. Gloria setzte sich auf Parkbänke und Wiesen, an den Rhein und in Kaufhäuser. Sie lief unachtsam durch die Gassen und verfluchte alle Leute, die ihr entgegen kamen, für ihre normalen, nichtigen Sorgen! Gloria fand keine Ruhe. Wenn sie lief, wäre sie lieber stehen geblieben und wenn sie sich hinsetzte, riss es sie schnell wieder fort, um weiterzugehen. Nichts war mehr echt – selbst die Sonne, die auf sie herabschien, trug das heimtückische Kleid der Zeit und des Wandels. Denn sie ging auf und unter, teilte das Leben in Tage und Monate ein – von denen ihr nur noch sechs an der Zahl blieben!
Sie war eine Marionette – ein Fisch, der im Netz zappelte – gefangen von den eigenen Gedanken. Die Angst vor dem Tod erstickte sie förmlich. Während Gloria innerlich Qualen litt, ließen sich andere wohltuend die Sonne ins Gesicht scheinen, aßen Eis und genossen den Tag.
Als es Abend wurde, schien Gloria nervlich am Ende zu sein. Es waren keine Tränen mehr da, um zu weinen. Es war kein Mut mehr da, um zu kämpfen. Und es war auch keine Hoffnung mehr da, um zu siegen. Die Endgültigkeit nagte so sehr an ihrem Dasein, dass sie nicht mehr wusste, wie sie weitermachen sollte. Gloria schlug das Buch auf. Doch außer ihrer verhassten letzten Seite fand sich nichts Neues. Sicherlich war es auf sie sauer, weil Gloria es gegen alles getreten und geschlagen hatte, was ihr in die Quere gekommen war. Ein dunkles Blau löste das Abendrot ab; tauchte den Rhein in eine graue Masse, in der sich unendlich viele Lichter spiegelten – als Gloria plötzlich eine Idee kam.
‹Verfluche, was Du liest, verfluche, was Du siehst. Was Du weißt, kannst Du nicht vergessen, noch kannst Du Deine Kräfte mit den meinen messen.› Na das wollten wir doch mal sehen…! Solange man sich als Opfer fühlte und weglief, wirkte man atemlos. Was aber, wenn sie den Spieß einfach umdrehte? Es war eine kranke Idee, aber die einzige, die Gloria den Knoten in ihrer Kehle sprengte… Wollten wir doch mal sehen, was das Buch so drauf hatte! Ein wahnsinniges Lächeln trat auf Glorias Gesicht. Sie glaubte nicht daran, dass sie tatsächlich ihre Kräfte mit denen des Buches messen konnte; darum ging es nicht. Aber warum sollte sie sich jetzt noch durch ihr Leben hetzen lassen – von vehementen Fragen und Zweifeln?
Sie konnte genauso gut den Spieß umdrehen und das Buch herausfordern! Bislang hatte sie immer versucht, den Tod zu verhindern – bei Jansen und bei der Frau. Aber sie selbst würde sich nicht einreihen in die Warteliste, die vor dem Tod floh! Gloria stand ruckartig auf. Es war fast dunkel geworden. Warum so negativ? Wenn der 14. Dezember ihr angebliches Ende skizzierte – war sie bis dahin unsterblich?!
Die Wut, die in ihr brannte, war der Motor, der sie antrieb. Wie wollte das Buch sie schon aufhalten? Gloria lief zu einer Brücke. Mittlerweile war es stockduster. Das Leben fühlte sich plötzlich wieder viel intensiver an, wenn man vor nichts und niemanden Angst hatte. Die eigenen Gedanken schienen immer der Dreh- und Angelpunkt zu sein: Ob man sich als Opfer oder als Täter sah…
Gloria ging die Brücke entlang und lief bis zum höchsten Punkt. Unter ihr strömten die schwarzen Wassermassen. Sie trat auf das dünne Geländer und stellte sich aufrecht. Der Wind drückte ihr im Rücken und sie versuchte, das Gleichgewicht zu behalten. Gloria schaute nach unten. Das schwarze Tief wirkte bedrohlich. Normalerweise hätte sie riesige Angst gehabt, aber wenn sie jetzt ausrutschte, sollte es so sein! Allerdings war Gloria felsenfest davon überzeugt, nicht ausrutschen zu können und dieser Gedanke ließ die Wut erneut in ihr auflodern!
Immer weiter balancierte sie über
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