Zerteufelter Vers (German Edition)
das Geländer und der Wind zerrte an ihrem T-Shirt. Wenn sie den Tod wirklich herausfordern wollte, dann musste sie jetzt springen! Angst züngelte in ihr auf. Zu groß war ihr Selbsterhaltungstrieb, zu groß der Wunsch zu leben. Also traute sie dem Buch doch nicht über den Weg? Wenn sie allerdings auch nur den leisesten Zweifel hegte, dass der 14. Dezember ihr auserkorener Tag sein sollte und sie so vor dem heutigen nichts zu befürchten hätte, so hieß das im Umkehrschluss, dass Gloria sich einen letzten Funken Hoffnung behielt. – Nämlich den 14. Dezember zu überleben…
Sie konnte das nicht! Gloria ließ sich auf die sichere Seite des Geländers herabsinken. Sie überlegte, welcher Sinn hinter all dem steckte. Erneut loderte Zorn in ihr auf. Nicht das Buch – sie selbst war ihr Feind. Mit klarem Kopf und entschlossenem Blick ließ Gloria den Ort des Geschehens hinter sich.
Die gesamte Nacht tigerte sie rastlos durch Düsseldorf und verirrte sich in Straßenblöcke weit außerhalb der Innenstadt. Der Blick auf ihr Handy verriet, dass es halb zwei Uhr morgens war. Von Weiten konnte Gloria eine stark befahrene Hauptstraße sehen – mehrspurig. Langsam lief sie in deren Richtung und dachte nach. Ihre Gedanken kreisten rund um ihren Vater und ihre Mutter. Irgendwie stand sie genau zwischen ihnen! Gloria stakste durchs hohe Gras und lief einen Hang hinauf. Sie kletterte über die Leitplanke. Diese Straße gehörte zu den mehrspurigen Autobahnzubringern. Wie schnell fuhr man hier wohl? Vielleicht 70 oder 80? Gloria setzte sich auf die Leitplanke und dachte nach. Es war keine Mutprobe, wenn sie versuchen würde, die Straße zu überqueren. – Viel mehr eine Wutprobe!
Denn so viel Zorn und Wut, wie in ihr schäumte, hatte sie noch nie zuvor empfunden. Sie wollte nicht sterben, aber Gloria wollte verdammt noch mal wissen, wie dieses Buch sie vor ihrem Tod bewahren würde. Hop oder top – wenn sie wirklich glaubte, dass das Buch mit seinen Prophezeiungen endgültig war, dürfte sie nichts zu befürchten haben! Gloria stand auf und schaute zu den vorbeibrausenden Autos. Der Rucksack war fest auf ihren Rücken geschnürt. Kopf oder Zahl – jetzt galt es!
Tausend Gedanken schossen ihr durch den Kopf, als Gloria den ersten Schritt auf die Straße wagte. Einfach weitergehen, einfach immer weiter… Sie setzte den nächsten Schritt und ging ganz langsam los. Das erste Auto hupte und der Fahrer trat auf die Bremse. Ein zweites hupte. Einfach immer weitergehen. Gloria schloss die Augen. In ihrem Inneren tobte ein Kampf aus Überlebenswillen, Flucht und Wahnsinn. Schritt für Schritt – immer weiter. Sie hörte Reifenquietschen, Hupen und das Horn eines LKW. Immer weiter, ganz langsam. Gloria preschten die wildesten Gedanken durch den Kopf, nur nicht, dass sie verrückt war. Hellwach… stieg ihr das Adrenalin bis in die Haarspitzen.
Immer, immer weiter. Gloria öffnete die Augen, als ein Auto geradeso an ihr vorbeischnellte. Sie konnte es kaum fassen – Gloria hatte die Straße fast komplett überquert. Nichts war passiert. Sie war sozusagen sterbenssicher! Nichts konnte ihr etwas anhaben. Wahrscheinlich hätte sie sich auch in den Rhein stürzen können und sie wäre danach ganz einfach zum Ufer geschwommen! Gloria pochte das Herz in der Brust; nur noch ein paar Meter. Fassungslos ging sie weiter und wollte gerade die letzten Zentimeter auf die andere Seite schreiten, als wie aus dem Nichts ein Rollerfahrer erschien und Gloria gerade noch herumschnellen konnte – doch es war zu spät: Der Roller erfasste sie seitlich und schlug sie mit einer unsagbaren Wucht mehrere Meter entfernt auf den Asphalt! Brennender Schmerz durchstach Gloria!
Aus weiter Entfernung hörte sie endloses Hupen und quietschende Reifen. Gloria krümmte sich schmerzverzerrt auf dem Boden, als sie plötzlich eine Böschung hinabstürzte, die sich seitlich dieser Straße befand. Panik flammte durch ihre Adern. Gloria schmeckte das Blut in ihrem Mund, doch mit einem Mal spürte sie keinen Schmerz mehr. Taub und abgeschnitten wirkte ihr Empfinden gegenüber der Realität. War es überhaupt echt? Sie fiel und rutschte – es hörte nicht auf. Alles war dunkel!
Ein dicker Busch bremste abrupt ihren Rutsch und ließ sie innehalten. Entfernt hörte sie Stimmen. Der arme Roller-Fahrer… Hoffentlich war ihm nichts passiert. Gloria versuchte sich hochzurappeln, doch ihre Beine gaben nach und ließen sie wieder zusammensacken. Erst jetzt merkte sie,
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