Zeugin am Abgrund
wandte sich ab und widmete sich wieder den Fichtenzweigen. “Sobald ich hier fertig bin, legen wir uns schlafen.”
Da sie viel lieber geschlafen als gegessen hätte, war das die erste erfreuliche Nachricht des Tages. Lauren sah an ihm vorbei zu der Stelle, die nur ein Stück vom Kaminfeuer entfernt war. Sam war damit befasst, Reihen aus übereinander liegenden Fichtenzweigen in eine Form zu bringen, die vage an eine breite Matratze erinnerte. “Gut. Darauf warte ich schon lange genug.”
Mit diesen Worten ging sie nach draußen in den Sturm, der um die Hütte tobte. Die Kälte traf sie im Gesicht wie eine riesige eiskalte Hand, und der Wind riss sie beinahe um. Lauren zog den Kopf ein und machte sich rasch an die Arbeit.
Als sie zurückkehrte, war Sam soeben mit der letzten Reihe aus Zweigen beschäftigt. Lauren hatte sich die Zeit genommen, um den Topf und die tiefen Teller mit Schnee zu füllen. Das Letzte, was sie wollte, war eine weitere Konfrontation mit dem Sturm, wenn sie irgendwann am Abend noch mehr Wasser brauchten.
Sam sah auf, sagte aber nichts, als sie die Tür einen Spaltbreit öffnete und sich hindurchzwängte, während sie Topf und Teller vor sich balancierte. Sie drückte die Tür hinter sich zu, ging durch den Raum, als würde sie sich auf einem Hochseil befinden, und stellte alles nahe dem Feuer ab. Dann drehte sie sich zu Sam um und stellte fest, dass er die silbrige Decke über die Matratze aus Fichtenzweigen gelegt hatte. Als er den Schlafsack darauf ausbreitete, runzelte sie die Stirn.
″Was gibt das?”
“Wonach sieht es denn aus? Ich mache das Bett fertig.”
“Aber Sie haben den Schlafsack auf die Matratze gelegt. Wo wollen Sie denn schlafen?”
Sam richtete sich auf und sah sie an. “Im Schlafsack. So wie Sie.”
“Waaaas? Geht es Ihnen noch gut? Meinen Sie etwa, ich würde mit Ihnen in einem Schlafsack die Nacht verbringen?”
“Sie haben gar keine andere Wahl. Ich übrigens auch nicht. Wir haben eine Wolldecke, eine Thermodecke und einen Schlafsack. Und ein Feuer, das kaum genug Wärme verbreitet, um uns am Leben zu halten. Sie können ein Stück Fleisch in die Ecke legen, und in ein paar Minuten ist es tiefgekühlt.”
“Mag ja sein, aber …”
“Hören Sie doch einfach auf, die Tugendhafte zu spielen. Wenn man bedenkt, wer und was Sie sind, ist das eigentlich etwas albern, meinen Sie nicht auch?”
“Was soll denn das heißen?” fragte sie aufgebracht. Er konnte doch nichts über sie und Collin herausgefunden haben, dafür war gar keine Zeit gewesen. Woher sollte er etwas über ihre Beziehungen zu Männern wissen? Oder genauer gesagt: ihre Beziehung zu einem Mann, schließlich war Collin ihr einziger Liebhaber gewesen.
Sam ignorierte die Frage. “Glauben Sie mir, es ist nicht nötig, Lady. Sie könnten sich splitternackt ausziehen und mich anflehen, es würde mich wirklich nicht interessieren.”
Lauren sah ihn an. So viele widersprüchliche Gefühle gingen ihr durch den Kopf, dass sie sprachlos war. Wut und Ablehnung waren die stärksten Empfindungen, aber gleichzeitig war sie so erleichtert, dass ihre Beine unter ihr wegzuknicken drohten.
Sie saß auf einem Berg fest, umgeben von einem heftigen Schneesturm, von dem niemand wusste, wann er sich endlich legen würde. Sie war allein mit einem schroffen, harten Mann, den sie kaum kannte. Sie war ihm völlig ausgeliefert, da sie wusste, dass sie ohne ihn sterben würde. Wenn er sich ihr auf sexuelle Weise genähert hätte, wäre es ihr nicht möglich gewesen, ihn abzuwehren. Das wussten sie beide.
Unter diesen Umständen konnte sie sich glücklich schätzen, dass er sie offenbar abstoßend fand.
Sie war abstoßend, ganz sicher.
Trotzdem hätte er das nicht so offen zeigen müssen. Sie hatte sich noch nie für den Typ Frau gehalten, der Männer vor Lust in den Wahnsinn treibt, aber bislang hatte auch noch niemand sie so behandelt, als wäre sie ein Troll. Es war beleidigend.
“Jetzt stehen Sie nicht da wie eine beleidigte Jungfrau”, brummte Sam. “Ich bin müde und ich möchte ein wenig die Augen zumachen. Also etwas Tempo, wenn ich bitten darf. Ziehen Sie die Stiefel aus, und kriechen Sie in den Schlafsack.”
Sie wusste zwar, dass er Recht hatte und er keine Annäherungsversuche unternehmen würde, dennoch machte es die Situation nicht erträglicher. Lauren war jedoch zu erschöpft, um sich mit ihm zu streiten. Wenn sie endlich Schlaf bekommen konnte, war sie sogar bereit, sich ein Bett mit Freddy
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