Zeugin am Abgrund
wahrnahm. “Warum? Was ist passiert?”
“Nichts! Alles!” herrschte sie ihn an. “Ich wusste nicht, wo Sie waren! Sie hätten mir sagen können, dass Sie die Hütte verlassen wollten und wann Sie wieder zurückkehren würden.”
Sam rückte die Tür zurecht und verkantete das Stück Holz hinter ihr. “Sie haben fest geschlafen, als ich aufgebrochen bin. Außerdem habe ich Ihnen gestern Abend gesagt, dass ich heute Morgen Fallen aufstellen würde.” Er zuckte mit den Schultern, zog seine Handschuhe aus und steckte sie in die Tasche seines Parkas. Ungerührt ging er hinüber zum Kamin und streckte seine Hände aus, um sie am Feuer zu wärmen.
“Aber da draußen tobt noch immer der Sturm! Sie waren so lange fort, dass ich bereits befürchtet habe, Ihnen könnte etwas zugestoßen sein.”
Er warf ihr einen durchdringenden Blick zu. “Verstehe schon. Ihre Sorge galt nicht so sehr meinem Wohlergehen, sondern Ihrem. Sie hatten Angst, weil Sie nicht wussten, was Sie machen sollten, wenn ich schwer verletzt oder sogar tot wäre.”
Wut und Verlegenheit ließen ihre Wangen rot anlaufen. So wie er es formuliert hatte, kam sie sich unbedeutend und egoistisch vor. Genau das hatte er mit Sicherheit auch beabsichtigt.
Nachdem sie aber Schlaf nachgeholt hatte, war sie ausgeruht genug, um trotz der traumatischen Ereignisse vom Vortag wenigstens etwas von ihrem Kampfgeist wieder zu beleben.
Sie ignorierte die Hitze in ihren Wangen, hob das Kinn und sah ihn finster an. “Das ist nicht wahr. Es hätte mir sehr Leid getan, wenn Ihnen etwas zugestoßen wäre. Ihre Freunde tun mir auch sehr Leid. Das gilt für jeden, der ums Leben kommt. Aber ich werde mir von Ihnen keine Schuldgefühle einreden lassen.” Je länger sie redete, umso wütender wurde sie. Mit jedem Wort wurde ihre Stimme schneidender -- im gleichen Maß, wie sie sich in ihren Zorn steigerte.
“Was glauben Sie eigentlich, wer Sie sind, dass Sie mich kritisieren können? Ich habe nicht darum gebeten, hier zu sein. Ich habe mir auch nicht ausgesucht, Zeugin eines Mordes zu werden. Genauso wenig wollte ich mitten im Winter in einer kleinen, unsicheren Maschine über die Rocky Mountains fliegen. Und den Absturz habe ich auch nicht verursacht. Und vielleicht darf ich ja noch anfügen, dass ich niemanden darum gebeten habe, mein Leben schon wieder auf den Kopf zu stellen und es mir zu entreißen, nachdem ich mich einigermaßen wieder arrangiert hatte. Und ich möchte ganz bestimmt nicht in dieser gottverlassenen Wildnis erfrieren! Wenn ich deswegen egoistisch bin, meinetwegen.”
“Das habe ich nicht gesagt.”
“Das müssen Sie auch gar nicht. Verdammt noch mal, ich habe doch wohl das Recht, um meine eigene Sicherheit besorgt zu sein. Das wären Sie an meiner Stelle auch. Ich weiß nicht, wie ich hier draußen überleben soll. Ich kenne die Gegend nicht, ich kann nicht kochen, und ich weiß auch nicht, wo ich hier etwas zu essen finden soll. Ich habe ja nicht mal eine Ahnung, wie ich ein Feuer machen soll. Ich wüsste nicht einmal, in welche Richtung ich loslaufen müsste.”
Die letzten Worte schrie sie ihm entgegen. Lauren wusste, dass ihr Zorn zum Teil eine verspätete Reaktion auf die Ereignisse der letzten sechsunddreißig Stunden war, aber das kümmerte sie nicht. Wenn sie eines aus dem Unfall gelernt hatte, der sie ihre Karriere als Konzertpianistin gekostet hatte, dann war es die Erkenntnis, für sich selbst einzutreten. Und von Agent Rawlins’ Grobheit hatte sie mehr als genug hingenommen, ohne etwas zu sagen.
Sie hatte sich in ihre Wut hineingeredet und sie war für einen Streit bereit, hoffte sogar, dass es dazu kommen würde. Doch ihr Wutausbruch schien keine Wirkung auf Sam zu haben. Sein Gesichtsausdruck blieb unverändert. Er blinzelte nicht einmal.
“Ja, ja, mir wird schon nichts zustoßen.” Als wäre er von dem Gespräch gelangweilt, wandte er sich ab, nahm zwei größere Zweige von dem zusehends kleiner werdenden Stapel Brennholz und warf sie in die Flammen, dann nahm er die Eisenstange und stocherte in der Glut.
Lauren starrte ihn an. “Das können Sie nicht wissen.”
“Ich bin so sicher, wie es nur möglich ist.” Er legte das Eisen weg, drehte sich wieder zu ihr um und sah sie mit einem Anflug von Ungeduld an. “Sehen Sie, ich bin hier draußen zur Welt gekommen. Seit ich ein Kind war, bin ich in diesen Bergen auf die Jagd und zum Angeln gegangen. Ich habe mit meinem Dad und dem Volk meiner Mutter wochenlang in der Wildnis
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