Zeugin am Abgrund
sich vor und berührte dreißigmal den Boden. Sie umfasste ein Fußgelenk und zog das Bein so weit nach oben, bis sie mit der Ferse ihren Po berührte. Das machte sie ein Dutzend Mal, dann wiederholte sie die Übung mit dem anderen Fuß.
“Jesus! Können Sie nicht mal eine Minute stillsitzen? Was machen Sie da eigentlich?” wollte Sam wissen, als sie auf der Stelle zu joggen begann.
“Ist das … nicht offensichtlich? Ich halte mich fit. Ich … gehe dreimal … in der Woche … ins Fitnessstudio”, stieß sie zwischen zwei Atemzügen hervor. “Um in Form zu bleiben … muss man … das regelmäßig … machen.”
Sam schnaubte. “Da würde ich mir an Ihrer Stelle keine Sorgen machen. Sie haben gestern wahrscheinlich mehr für Ihren Körper getan, als Sie es in einem ganzen Monat in Ihrem Fitnessstudio für Yuppies machen.”
Lauren ignorierte die bissige Bemerkung und joggte weiter. Sollte er sich doch über sie lustig machen. Wenn sie in knietiefem Schnee von diesem Berg abstiegen, wollte sie so fit wie möglich sein. Und wenn der Marsch annähernd so wie am Vortag war, dann würde sie jedes bisschen Kraft und Durchhaltevermögen brauchen, das sie aufbringen konnte.
Eine Stunde lang joggte sie in der baufälligen Hütte. Die Welt vor dem verdreckten Fenster war auf ein blendend weißes Schneegestöber reduziert. Der Wind pfiff durch die Ritzen in den Wänden und trieb vereinzelte Schneeflocken ins Innere. Mehr und mehr bahnten sich auch Flocken einen Weg durch das Loch im Dach, das Sam behelfsmäßig abgedeckt hatte. Abgesehen von dem Bereich direkt vor dem Feuer war es in der Hütte so kalt, dass sie den Hauch ihres Atems sehen konnten. Als Lauren mit ihren Übungen fertig war und sich wieder auf den Schlafsack setzte, merkte sie nichts von der frostigen Luft.
Sie wollte Sam weiterhin so die kalte Schulter zeigen, wie er es machte, doch je länger sie ihm bei seiner Arbeit zusah, umso neugieriger wurde sie. Während sie ihre Übungen absolviert hatte, war es ihm irgendwie gelungen, die beiden langen Stücke in der Mitte zu spalten. Jetzt schob er einen der kurzen Stöcke im rechten Winkel zwischen sie, etwa jeweils fünfundzwanzig Zentimeter von den beiden Enden entfernt. Nun machte er das Gleiche mit dem anderen kurzen Stück am entgegengesetzten Ende. Je länger Lauren ihm zusah, desto mehr faszinierte sie seine Arbeit, bis sie es schließlich nicht mehr aushielt.
“Was machen Sie denn da?”
Er warf ihr einen flüchtigen Blick zu und widmete sich dann wieder seiner Beschäftigung.
“Ich fertige Schneeschuhe für uns an. Wenn der Sturm vorüber ist, müssen wir uns auf den Weg machen. Bei dem Pulverschnee da draußen werden wir die brauchen.”
“Wirklich? Ich habe noch nie Schneeschuhe getragen.”
“Kann ich mir vorstellen.”
Sein abfälliger Ton brachte das Fass zum Überlaufen. Seit sie sich begegnet waren, hatte er sich ihr gegenüber distanziert, ja sogar feindselig verhalten. Bislang hatte sie sein Verhalten hingenommen -- zum Teil, weil sie es für angebracht hielt, den Mann, der praktisch ihr Leibwächter war, nicht vor den Kopf zu stoßen, zum Teil aber auch, weil sie sich in seiner Gegenwart unbehaglich fühlte. Etwas an diesem harten, verschlossenen Mann machte sie nervös.
Durch ihre Erfahrung mit Carlo Giovessi hatte sie jedoch gelernt, dass es nichts brachte, unangenehme Wahrheiten zu ignorieren oder so zu tun, als würde es sie gar nicht geben. Von jetzt an würde sie sich ihren Problemen stellen … und Sam Rawlins’ Verhalten stellte für sie ein Problem dar.
Lauren legte den Kopf schräg und sah ihn an. Inzwischen hatte er die beiden kürzeren Stöcke zwischen die längeren gedrückt und sie zu einem länglichen Oval auseinander gebogen, das an beiden Enden spitz zulief.
“Sie können mich nicht besonders gut leiden, Agent Rawlins, oder?”
“Stimmt.”
Lauren musste nervös kichern. “Na, das war wenigstens ohne Umschweife.”
Sie hatte erwartet, dass er es abstreiten oder wenigstens einen Vorwand vorschieben würde. “Wie kommen Sie denn darauf?” oder “Das bilden Sie sich nur ein” oder “Ich kenne Sie nicht gut genug, um Sie zu mögen oder nicht zu mögen″. Mit einer so direkten Bestätigung hatte sie nicht gerechnet.
Allerdings hätte sie mit Blick auf ihre bisherige Erfahrung mit Sam Rawlins damit rechnen können, dass er eine ehrliche Antwort gab. Diplomatie und höfliche Notlügen passten nicht zum Stil dieses Mannes.
“Würden Sie mir den
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