Zeugin am Abgrund
wäre niemand dahinter gekommen, dass Sie seine Geliebte waren, nur weil Sie im Club gearbeitet haben? Glauben Sie mir, das ist eine fadenscheinige Tarnung. Carlo hat seine Frauen immer auf seiner Gehaltsliste.”
“Ich habe Ihnen doch gesagt … ach, was soll’s? Mit Ihnen zu reden ist völlig sinnlos.” Sie machte den Mund zu und sah weg. Er betrachtete ihr makelloses Profil.
Die eisige Würde in ihrem Tonfall brachte ihn fast zum Lächeln. Sie saß im Schneidersitz auf dem Boden dieser Bruchbude, sie trug eine lange Unterhose und weite Winterkleidung, die ihrem Körper jegliche Form nahm, ihr Gesicht zierte nicht ein Hauch von Make-up, und ihr ungekämmtes Haar lag wirr auf ihren Schultern. Sie aß Fertiggerichte von einem Aluminiumteller, und doch schaffte sie es, so ehrwürdig wie eine Königin zu klingen und auszusehen.
Das bewies in seinen Augen einmal mehr, wie sehr Äußerlichkeiten täuschen konnten.
“Es ist Ihnen offensichtlich unangenehm, dass Ihr Geheimnis enthüllt worden ist. Aber warum interessiert es Sie, was ich denke?”
“Das interessiert mich nicht, das dürfen Sie mir glauben.”
“Was ist dann Ihr Problem?”
Sie sah ihn eindringlich an. “Warum sollte ich Ihnen das erzählen? Sie würden es mir nicht glauben, Sie haben ja bereits Ihr Urteil über mich gefällt.”
“Dann überzeugen Sie mich vom Gegenteil.”
Lauren schnaubte und rollte mit den Augen. “O ja, als ob mir das gelingen könnte.”
Sie aßen beide weiter. Als sie fertig waren, nahm sie ihren und seinen Teller und brachte sie zum Kamin, wo sie heißes Wasser in die Pfanne goss, und begann das schmutzige Geschirr zu schrubben.
Sam beobachtete sie und war ein wenig überrascht, dass sie das aus eigenem Antrieb gemacht hatte, ohne sich wieder von ihm auffordern zu lassen. Damit hatte er nicht gerechnet, und es machte ihn nur noch neugieriger. “Und? Werden Sie mir erzählen, warum Sie sich selbst so bedauern?” fragte er, während sie ihm den Rücken zugewandt hatte.
Sie sah ihn über die Schulter an. “Ich ergehe mich nicht in Selbstmitleid. Wenn Sie es unbedingt wissen wollen: Ich bin wütend auf mich.” Sie spülte Teller und Löffel mit frischem heißen Wasser ab, dann legte sie sie zur Seite, nahm die Pfanne und ging zur Tür. “Wenn Sie mich jetzt entschuldigen würden”, sagte sie und ging um ihn herum. “Ich muss draußen die Pfanne sauber machen.”
“Lassen Sie ruhig, ich mache das später. Erzählen Sie erst mal weiter. Warum sind Sie wütend auf sich?”
Lauren seufzte, stellte die Pfanne aber zurück an den Kamin und setzte sich wieder auf den Schlafsack. “Wollen Sie sich das wirklich anhören? Damit Sie es verstehen können, muss ich sehr weit ausholen.”
Sam sah aus dem Fenster und stellte fest, dass der Schnee mit unverminderter Heftigkeit fiel und vom Sturm umhergewirbelt wurde. Er nahm den dritten Schneeschuh in die Hand und sagte: “Wir haben viel Zeit. Schießen Sie los.”
Sie zupfte an ihrer wollenen Trainingshose und betrachtete ihre rastlosen Finger. “Wie ich Ihnen schon gesagt habe, war ich ein Wunderkind. Mein ganzes Leben galt nur der Musik. Wenn ich nicht auf der Bühne stand, übte ich.”
“Weil Ihr Vater das so wollte”, warf Sam ein. Er machte sich keine Mühe, seinen ungläubigen Tonfall zu verstellen, was ihm einen weiteren eisigen Blick bescherte.
“Ja, das ist richtig. Allerdings war das nie ein Thema gewesen. Ich liebte das Klavierspiel, und das Üben machte mir Spaß. Das ist sogar heute noch der Fall …” Sie schüttelte den Kopf. “Egal. Worum es geht: Mein Vater hat sich immer um alles gekümmert, damit ich mich ganz der Musik widmen konnte. Und damit meine ich auch alles. Er bezahlte alle Rechnungen, buchte die Konzerthallen, arrangierte alles und regelte all die tagtäglichen Dinge des Lebens, ob wir auf Reisen waren oder ob wir uns zu Hause aufhielten, was sehr selten vorkam.”
“Wo war Ihr Zuhause?”
“Ein Apartment in New York.”
“Und Ihre Mutter? Ist sie mitgereist?”
“Meine Mutter starb bei meiner Geburt.”
“Das tut mir Leid.”
“Ist schon gut, das konnten Sie ja nicht wissen. Mein Vater starb vor drei Jahren an einem Herzinfarkt. Ich war am Boden zerstört. Sein Assistent nahm seinen Platz ein und kümmerte sich so wie zuvor mein Vater um alles.”
“Das wäre dann Collin Williams, richtig?”
Sie warf ihm einen vorsichtigen Blick zu, dann sah sie wieder auf ihre rastlosen Finger. “Ja.”
“Er war mehr als nur
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