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Ziemlich beste Freunde

Ziemlich beste Freunde

Titel: Ziemlich beste Freunde Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Phillipe Pozzo di Borgo
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stabilisiert, eine Entwicklung, die sich keiner erklären kann. Sie begleitet mich überallhin, ermutigt mich bei allen meinen Übungen. Wir haben viel zu tun, unsere Tage sind verplant.
    Ich habe Monate gebraucht, um sitzen zu lernen. In einem Raum mit großen Fenstern, durch die man auf den Atlantik blickt, wird man auf einen Stehtisch gelegt. Jeden Tag wird der Neigungswinkel um ein Grad erhöht, bis man sich, am Tisch festgeschnallt, triumphierend in der Senkrechten befindet und endlich den Physiotherapeuten und Pflegern in die Augen sehen kann. Schluss mit der Nasenlochperspektive! Sobald man vertikalisiert ist, kann man auch hingesetzt werden.
    Ich liege praktisch im Rollstuhl, Steuerung unterm Kinn. Schnell werde ich zu einem As am Steuer und mache den Kindern der Klinik, die vor nichts Angst haben, Konkurrenz. Diese Jugend mag noch so leiden, sie lacht, sie ist fröhlich. Ihr Lachen steckt die Erwachsenen an. Es ist unmöglich, nicht von der ungeheuren Hoffnung erfasst zu werden, die in dieser Klinik herrscht. Jeder Patient ist ein einzigartiger Fall. Ganz unten in der Rangordnung befinden sich »die Knie« – die eines Tages wieder laufen werden. Sie stellen sich den Tetraplegikern, die unbestritten an der Spitze der Hierarchie stehen, zur Verfügung. Andere stecken in Türmen aus Gips; metallische Gebilde ragen ihnen oben an den Köpfen heraus. Sie sind so fragil, dass man sie einbetonieren musste. Einer von ihnen, ein Afrikaner, hat mal so schallend gelacht, dass er langsam hintenüberkippte. Keiner konnte ihn festhalten. Er schlug der Länge nach hin. Man hörte, wie der Gips und das Metall auf dem Boden aufschlugen; er hat überlebt.
    Béatrice hat für jeden ein freundliches Wort. Manchmal kümmert sie sich um die, denen es nicht gut geht. Man merkt, wenn sie deprimiert sind: Sie kommen nicht in die Kantine, sondern bleiben lieber allein in ihrem Zimmer und weinen; dann fragt sie, ob sie sie besuchen darf. Das Pflegepersonal ist von einer Sanftmut und Liebenswürdigkeit, die unvorstellbar sind im Krankenhausmilieu. Die Patienten bleiben lange, durchschnittlich ein Jahr; Christophe ist seit fünf Jahren da. Als er ganz jung war, hat er sich einen Virus eingefangen. Mittlerweile ist er Tetraplegiker wie ich; ihm ist den ganzen Tag kalt und er bewegt sich keinen Zentimeter von den Heizkörpern weg. Im Sommer, wenn die Sonne durch die Scheiben brennt, findet man ihn am Fenster, schweißnass, aber trotzdem verfroren. Das ist ein Problem der Tetras: Ihr Temperaturhaushalt ist gestört. Trotz des Nervenbrennens, das mich an der Oberfläche verzehrt, ist mir oft kalt bis ins Mark. Ich fühle mich wie ein tiefgefrorenes Steak, das kurz in der heißen Pfanne gewendet wurde und gegessen wird, während innen noch das Eis knirscht. Viele rauchen, um sich aufzuwärmen; die, die einen Luftröhrenschnitt haben, rauchen durch das Loch in ihrer Kehle.
    Wie viele Hemden, Hosen, Decken habe ich auf die Weise angesengt, weil ich nichts spürte, bis der Geruch von verbranntem Fleisch mir in die Nase stieg!
     
    Wir haben jedem Pfleger, jeder Krankenschwester einen Spitznamen gegeben: Herzenselixier, Sag-mal-Madie, Grille, hohes C, Jo, Annick mit den heißen Küssen, Bitte-Brigitte, Rasierwasser-Yo-Yo, die gute Seele, die rote Sophie, Schwester Françoise, Louis der Druide, Papa Jojo, Doppelzentner-Joel, Doc Jean-Paul, Big Boss Busnel.
     
    Lauter Engel.
     
    Die Tetras haben keine Kontrolle mehr über ihre Brustmuskulatur. Sie atmen mühsam mit dem Zwerchfell. Ich habe Monate gebraucht, um mir die für diese Atemtechnik nötigen Reflexe anzueignen; manche schaffen es nie. Sie bleiben für immer an das Beatmungsgerät angeschlossen.
    Das Wasser im Schwimmbad hat 33 Grad, damit wir nicht frieren. Ich fühle mich wie ein Kosmonaut in der Schwerelosigkeit. Nichts gibt mir Halt – wenn ich kopfüber unter Wasser sinken würde, könnte ich nichts dagegen unternehmen. Zwei Schwimmreifen liegen unter meinen Armen, einer um den Hals. Meine Schmerzen scheinen nachzulassen; ich schwebe, das Wasser streichelt mein Gesicht. Kinderlärm ist zu hören; ich lasse mich in eine süße Benommenheit fallen.
    Bei den Mahlzeiten in der Kantine zeigt sich, wer eine starke Persönlichkeit hat. Quer durch den Saal werden lustige Geschichten zum Besten gegeben. Es vergeht kein Tag, ohne dass ein Patient einen »Irrläufer« hat und das Essen in die Lunge statt in den Magen bekommt. Daran kann man sterben. Das Pflegepersonal eilt herbei. Die anderen

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