Ziemlich beste Freunde
ich kann nicht. Gedanken stürmen auf mich ein. Ich habe ihr so oft beigestanden; ich bin aber auch oft genug mit weiten Flügelschlägen vor ihr, vor der Angst geflohen. Wie konnte ich nur so feige sein? Ich möchte im Erdboden versinken.
Aus ihren täglichen Nachrichten sticht die Verzweiflung heraus. Sie fürchtet, nicht mehr lange durchzuhalten. Die Kinder sind wild, sie fühlt sich schrecklich einsam in diesen korsischen Bergen, wo es nichts Sanftes gibt. Zärtlichkeiten, eine streichelnde Hand, der Kopf eines Kindes an der Schulter, werden wir das je wieder erleben?
Ich habe Angst um sie, so ganz allein in ihrer Erschöpfung auf Korsika. Ob wir unsere Zuversicht wiederfinden werden?
Wir haben nie mit einem solchen Unglück gerechnet.
Abdel
Nach einem Jahr Reha in der Bretagne ziehen wir wieder nach Paris. Béatrice bringt uns in einem schönen Haus mit Garten im Zentrum der Stadt unter. Sie kümmert sich um die Renovierungsarbeiten und richtet alles ein. Mein Schwiegervater hat sich an die Militärverwaltung gewandt und erreicht, dass Jean-François, ein junger Legionär, der im Golfkrieg verwundet wurde, mir als Helfer zur Verfügung gestellt wird. Er hat einen Wolfshund und redet nicht viel. Drei Monate lang geht alles gut, doch dann muss Béatrice wieder ins Krankenhaus. Ich bitte Jean-François, mich um acht Uhr abends dort abzuholen. Um elf ist er immer noch nicht da. Endlich taucht er auf, ohne ein Wort der Erklärung, und verstaut mich scheppernd in dem Lieferwagen, mit dem er gekommen ist. Die Fahrt verläuft nach dem Motto »Pozzo, die Rückkehr«. Er hält an keiner roten Ampel. Mein Rollstuhl rutscht in dem Viehtransporter hin und her. An einer grünen Ampel stellt er sich plötzlich quer auf die Straße, zieht die Handbremse und springt aus dem Wagen. Er verprügelt zwei Leute aus einem anderen Auto, die angeblich versucht hätten, ihn zu überholen, während er seine Schlangenlinien fuhr. Dann steigt er wieder ein und fährt mich schweigend nach Hause. Ich liege auf dem Boden des Transporters und koche vor Wut, kann aber nichts tun; ich warte, bis er mich ins Bett gebracht hat, bevor ich ihm verkünde, dass ich seine Dienste nicht mehr benötige.
Er erklärt mir würdevoll, dass er wieder angefangen habe zu trinken. Wir trennen uns im gegenseitigen Einvernehmen.
Abdel ist der Erste, der sich auf meine Anzeige beim Arbeitsamt hin vorstellt. Es sind 90 Bewerber, darunter ein einziger Franzose; ich gehe nach dem Ausschlussprinzip vor, und am Ende bleiben nur noch Abdel und der Franzose übrig. Jeder bekommt eine Woche Probezeit. Ich spüre bei Abdel eine Persönlichkeit, eine situative Intelligenz und etwas fast Mütterliches. Außerdem kann er gut kochen, auch wenn er hinterher nie aufräumt.
Der Franzose macht den Fehler, mir zu sagen, wenn man einen Moslem in sein Haus lasse, könne man auch gleich dem Teufel die Tür öffnen. Daraufhin stelle ich Abdel unverzüglich ein. Wir haben ihm ein 20-Quadratmeter-Studio im obersten Stock eingerichtet. Er wird gut bezahlt und bekommt Unterkunft, Verpflegung und die Wäsche gewaschen. Es ist das erste Mal in seinem Leben, gesteht er mir später, dass man ihn mit Respekt behandelt. Bisher hat er von kleinen Aushilfsjobs gelebt. Da sein Stolz keine Grenzen kennt – wie ich nach und nach erfahren werde –, konnte es schon mal vorkommen, dass er seinem Arbeitgeber gleich am ersten Tag die Tür vor der Nase zuschlug und ihm dazu noch eine Tracht Prügel verpasste, um ihm ein bisschen Benehmen beizubringen.
Ein einziges Mal hat er mir von seinem Kindheitstrauma erzählt. Tränen der Wut liefen ihm übers Gesicht. Seine Eltern hatten mehr als zehn Kinder. Sie haben ihn, als er drei Jahre alt war, an einen Onkel väterlicherseits »abgegeben«, der selbst keine Kinder hatte. Das war wohl Tradition in Algerien. Er hat es niemals akzeptieren können. Er ist ein erbitterter Einzelgänger, doch in unserer Familie fühlt er sich aufgehoben.
Er ist der ganzen Welt böse. Seine ein Meter siebzig kompensiert er mit einer außergewöhnlichen Kraft. Er verprügelt jeden, der es ihm gegenüber »an Respekt fehlen lässt«, egal ob Mann oder Frau. »Man schlägt keine Frauen«, sage ich ihm. »Dann hätte sie mich nicht dreckiger Araber nennen sollen.«
Was er natürlich nicht dazusagt, ist, dass er Gas gegeben hat, als sie gerade den Zebrastreifen überquerte, dass er ihr die Vorfahrt genommen hat oder dass sie nicht auf seine Anmache eingegangen
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