fand sie an den Ufern des Flusses. Sie webte mit ihren langen schlanken Händen den Sabra 28 , als sie von einem Almoravidenherrscher entführt wurde, der auf den Stadtmauern von Marrakesch starb.
Die Wüstenschönheit und das Flusskind besuchen mich jeden Tag. Ich erzähle den staunenden schwarzen Augen Geschichten. Sie versteht mich nicht, lächelt aber; Khadija wirft ab und zu ein Wort der Erklärung ein. Ich bitte Sabah, uns ein Lied vorzusingen. Manchmal erkenne ich einen französischen Kinderreim und murmele die Worte mit, die ich noch weiß. Sabah lacht. Wenn sie aus der Schule kommt, zeigt sie mir ihr Heft, in dem sie arabische Kalligraphie und lateinische Buchstaben übt. Ich lobe sie für ihren Fleiß. Eines Tages hat sie mich gefragt, wann ich wieder gesund werde. »Das dauert noch, aber du könntest mir helfen.« Khadija setzt sie zum Zeichnen an einen Tisch. Sie nimmt meine Hand. Zu Anfang sagt sie nichts.
Khadija legt sanft ihren Kopf an meine schmerzende Schulter. Ihre Hand streift leicht meine Wange. Ich küsse sie auf die Stirn und schließe die Augen, atme ihren Zitronenduft. Sie ist eingeschlafen. Ich wache über sie, gerührt über so viel Zutrauen. Ein Sonnenstrahl lässt sie die Augen öffnen; sie lächelt mich an und schmiegt sich dichter an mich. So sind wir geblieben, mit zerbrechlichen Hoffnungen. Sie küsst mich zärtlich.
Wir sind ans Ufer des Stausees Lalla Takerkoust gefahren. Er ist umrahmt von ewigem Schnee. Sabah schwimmt. Wir lassen uns treiben, in der Ferne dümpeln Fischerboote. Am Himmel fliegen noch einige Möwen. Gott macht Pause. Ich habe Clara gelöscht; Béatrice leuchtet. Khadija zieht mich mit fester Hand ins kühle Wasser.
Am Fuß des Atlas habe ich eine Oase mit hundertjährigen Olivenbäumen entdeckt. Dort werde ich ein Lehmhaus für euch bauen, und dann geben wir den zerlumpten Kindern des benachbarten Douar 29 Unterricht.
Sie sind meine Gefährtinnen geworden.
28 Sabra (»pflanzliche Seide«) ist ein Stoff, bei dem Kaktusfasern mit Baumwollfasern einer anderen Farbe verwoben werden. (A. d. Ü.)
29 Douar: Dorf.
Die Odyssee
Wijdane sitzt im Gurtzeug meines Gleitschirms. Das Segel – das himmelblau-sonnengelbe, das ich schon vor zwanzig Jahren hatte – liegt hinter mir auf dem Vorplatz des Château de la Punta ausgebreitet. Aus der Bucht von Ajaccio steigt eine warme Brise auf.
»Sollen wir, Tochter?«
Khadija steht neben uns:
»Passt gut auf euch auf!«
»Kein Problem«, antworte ich, ganz im Stil von Abdel.
Ich hebe ab, das Segel bläht sich über unseren Köpfen, ein leichter Zug an der Bremsleine und wir sind in der Luft. »Wijdane! Schau mal nach links, wie schnell der Bussard aufsteigt! Sollen wir mit ihm um die Wette fliegen?«
Ich fliege eine Kurve. Unter mir steht Béatrice in ihrem durchsichtigen weißen Kleid auf der Freitreppe, auf dem Kopf einen Strohhut mit fuchsiarotem Band. So hat sie mich all die Jahre ihrer Abwesenheit hindurch begleitet. An ihrem Arm hängt ein Korb mit Rosen aus dem Garten. Laetitia schiebt den Kinderwagen, in dem ihr Jüngster liegt, ein Sonnenschirm verdeckt sein Gesicht. Sabah ist in ihr Buch vertieft. Robert-Jean beugt sich im Schutz der blühenden Kastanien zu seiner Verlobten. Noch weiter unten der Turm und die Friedhofskapelle.
Wir kreiseln im Aufwind. Wijdane lacht aus vollem Hals.
»Tochter, das Leben ist verrückt!
…
Und so schön!«
Essaouira, im August 2011.
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Philippe Pozzo di Borgo
Philippe Pozzo di Borgo, geboren 1951, war jahrelang Geschäftsführer der Firma Champagnes Pommery. Seit einem schweren Gleitschirmunfall ist er querschnittsgelähmt. Mit seinem Buch Le second souffle veröffentlichte er den bewegenden Bericht über sein neues Leben. Er lebt mit seiner zweiten Frau und zwei Töchtern in Marokko.