Ziemlich beste Freunde
zu lernen. Er lacht, wenn sich das Gespräch um die französischen Gefängnisse dreht, veritable Hotels. Seiner Meinung nach überwintern viele Bewohner der Vororte dort, weil es so schön warm ist, und im Sommer kommen sie wieder raus, um neue Dinger zu drehen.
Er schätzt mich, glaube ich, weil ich ihn für intelligent halte und der Meinung bin, dass er eine bessere Zukunft verdient. Unser privilegiertes Milieu ist für ihn eine Welt von Außerirdischen, die einzige Realität, die er kennt, ist die Gewalt der Straße. Trotzdem kümmert er sich mit enormer Liebenswürdigkeit um meinen Sohn und Robert-Jean behandelt ihn wie seinen großen Bruder.
Abdel schläft immer nur ein paar Minuten, ganz egal wo. Fahrzeuge führt er auf genauso extravagante Weise wie sein Leben. Er nickt ständig am Steuer ein. Das macht mir Angst; ich bin gezwungen, ihn wachzuhalten. Trotz meiner Bemühungen verursacht er zahllose Unfälle, wie an dem Tag, als ich hinten im Viehtransporter auf der Antidekubitusmatratze liege. Wir sind schon seit drei Stunden auf der Autobahn, als es plötzlich kracht. Ich werde zwischen die Vordertür und den Beifahrersitz geschleudert. Mein Gesicht ist blutüberströmt, ich kann nicht sprechen. Die Rettungssanitäter treffen ein und versorgen alle anderen. Einer von ihnen öffnet die Hecktür, schließt sie wieder und ruft: »Hier liegt eine Leiche!« Abdel befreit mich und beult den vorderen Kotflügel mit einer Eisenstange wieder aus. Er fährt weiter, als wäre nichts geschehen, und schimpft dabei auf diese Frau, die ihn angeblich beim Überholen geschnitten hat. In Wirklichkeit ist er am Steuer eingeschlafen.
Er gibt es nie zu, dafür ist er zu stolz. »Ich bin der Beste«, sagt er immer und lacht. Er ist davon überzeugt und lässt sich von nichts und niemandem umstimmen.
Er ist unerträglich, eitel, stolz, brutal, unzuverlässig, menschlich. Ohne ihn wäre ich zugrunde gegangen. Abdel hat mich pausenlos gepflegt, wie einen Säugling. Er hat auf jedes noch so kleine Zeichen von mir geachtet, während jeder einzelnen meiner Ohnmachten war er zur Stelle, er hat mich befreit, wenn ich gefangen war, beschützt, wenn ich schwach war. Er hat mich zum Lachen gebracht, wenn ich nicht mehr konnte. Er ist mein Schutzteufel.
VIERTER TEIL Der zweite Atem
Zeugen
Nach drei Monaten auf der Intensivstation bringt Béatrice die Kinder zum ersten Mal ins Krankenhaus mit. Laetitia gibt sich große Mühe herauszufinden, ob ich sie auch wiedererkenne, da ich wegen des Luftröhrenschnitts nicht sprechen kann. Sie treibt allerlei Unfug, schleicht sich hinter die anderen Familienmitglieder, die um mein Glasbett herumstehen, und macht ihnen Hasenohren oder schneidet Grimassen. Ich verfolge ihre Spielchen mit großem Entzücken. In meinen Augen entdeckt sie das Lachen, das ihr mein Mund wegen der Schläuche nicht schenken kann.
Schuldgefühle stellen sich ein. Sie sind unnütz und lassen einen doch nie mehr los. Hätte ich diesen Tag des 23. Juni vermeiden können, dann hätte Béatrice nicht so viel Kraft lassen, die Kinder hätten nicht diesen Schock erleben müssen, Laetitia wäre nicht so zerrissen und Robert-Jean nicht so verstört. Sie mussten sich derart anstrengen, damit ich nicht aufgebe! Es war zu viel für ihr Alter, es ging über ihre Kräfte. Für mich begann an diesem 23. Juni meine Gegenwart.
*
Ich liege auf einem Glaskugelbett, das mir ein Gefühl des Schwebens vermittelt: Unter mir werden mikroskopisch kleine Kugeln durch einen warmen Luftstrom verwirbelt. Die Wärme, das summende Gebläse, das Fehlen jeglicher zeitlicher Anhaltspunkte entziehen mich der Wirklichkeit. Sechs Wochen lang bin ich nun schon abwesend, wird mein Hirn immer mürber. Und das alles nur, damit mein Hintern verheilt!
Wundliegegeschwüre sind unser Los. Es genügt, eine Viertelstunde lang mit etwas in Berührung zu sein, einem Gegenstand, einem Möbelstück – wir merken es überhaupt nicht –, und schon ist die entsprechende Körperstelle entzündet. Dann bedarf es monatelanger intensiver Pflege, bis sie sich wieder schließt.
Mehr als einmal bin ich in den zweifelhaften Genuss eines Dekubitus gekommen, an der Ferse, am Ellbogen, an den Knien und am Kreuzbein. Die Druckgeschwüre waren so tief, dass die Knochen freilagen und ich operiert werden musste, um eine bleibende Infektion zu verhindern.
Sogar im Krankenhaus kann man einen Dekubitus bekommen. Obwohl ich im Rehazentrum drei Monate lang bestens
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