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Ziemlich beste Freunde

Ziemlich beste Freunde

Titel: Ziemlich beste Freunde Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Phillipe Pozzo di Borgo
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Krankheit bedeuten eine Zäsur und eine Erniedrigung. In den Momenten, in denen man seinem Ende entgegenblickt, ist die Hoffnung ein lebensnotwendiger Atem, der immer stärker wird; richtig gebraucht, wird er zum zweiten Atem.
    Marathonläufer kennen das Phänomen des zweiten Atems. Es ist eine Art Zustand der Gnade. Dabei wird der Atem durchlässig, er vertieft sich. Die Schmerzen verschwinden. Zweiundvierzig Jahre lang habe ich mir die Luft abgeschnürt. Wir rauben uns selbst den Atem, indem wir zu schnell losrennen, indem wir immer die Besten, die Ersten sein wollen. Diejenigen, die nach einigen Dutzend Kilometern leichter atmen, haben mental die Ankunft im Ziel vorweggenommen. Das Fest Gottes, die wiedergefundene Liebe ist das Ziel. Diese Vision von der Ankunft ist eine Notwendigkeit.
     
    Einen Marathon läuft man niemals allein.
     
    Die Schreie, die Geständnisse, die desinfizierten Betten, die für den Nächsten bereitgestellt werden, verbinden die Menschheit über die Gegenwart hinaus. Die Welt ist bevölkert von Seufzern und Schemen, von Schattenexistenzen. Wir entdecken, dass es ein Davor und ein Danach gibt, dass schon die Alten sich die Welt erklärt haben, dass die Ewigkeit von denen bewohnt wird, die uns vorangegangen sind. Die Hoffnung ist die Brücke, die uns von den »Erinnerungen, […] schimmernden Gewölben gleich« 15 zur Ewigkeit führt.
     
    *
     
    Das Telefon klingelt. Eine himmlische Stimme erfüllt den Raum: »Hallo, hier Marie-Hélène Mathieu, Vorsitzende des christlichen Behindertenwerks Office chrétien des handicapés« , – kein Zweifel, ich komme dem Himmel immer näher! –, »ich habe Sie in der Sendung von Jean-Marie Cavada 16 gesehen. Ich organisiere eine Vortragsreihe und würde Sie gern als Redner engagieren.«
    »Ich habe nicht allzu viel Zeit zur Verfügung, verehrte Mme Mathieu, und ich bin nicht sehr gläubig. Außerdem befinden sich meine Gedanken zum Thema Behinderung noch auf dem Niveau eines Neulings.«
    Doch wie hätte ich ablehnen sollen? Ich habe keine Lust zu diskutieren. Die Vortragsreihe findet in drei Monaten statt, mit etwas Glück kommen mir die Umstände zu Hilfe.
    »Ich würde den Vortrag gern zusammen mit meiner Frau halten, die seit fünfzehn Jahren an einer schweren Krankheit leidet. Sie ist sehr gläubig, zusammen dürften wir es auf einen guten Mittelwert bringen!«
    »Unter welchem Titel dürfen wir Ihren Vortrag ankündigen?«
    Ich bin völlig erschöpft und orientierungslos, doch dann habe ich eine Eingebung:
    »Der zweite Atem.«
    »Sehr gut, dann kündigen wir also den zweiten Atem von Philippe und Béatrice Pozzo di Borgo an.«
    »Nein, den zweiten Atem von Béatrice und Philippe.«
    Sie wundert sich, doch ich lasse mich nicht beirren. Es hat mich einen großen Schritt weitergebracht, dass ich, ausgelöst durch ihre Frage, diese Worte finden konnte.
     
    Warum Béatrice und Philippe? Trotz meiner extremen Schwäche wird mir klar, dass Béatrices Krankheit mir hilft, mich mit erstaunlicher Leichtigkeit an meine Behinderung zu gewöhnen. Ich ziehe mich zurück, lasse mich jedoch nicht entmutigen. Dabei hat meine Haltung nichts mit einem schlechten Gewissen gegenüber Béa zu tun, die bereits seit fünfzehn Jahren leidet und kämpft, auch nicht mit falschem Ehrgeiz, etwa weil ich es ihr gleichtun wollte. Nein, was mir hilft, ist die Zuversicht, die sie tief aus ihrem Inneren schöpft. Solange wir noch Lebenskraft besitzen, hat unser Leben seine ganz eigene Schönheit, und es wäre ein Jammer, dies nicht zu schätzen. Genau dieser Blick ist es, der mich nach einem Monat im Koma beim Erwachen begrüßt. Wie könnte ich den zweiten Atem erklären, ohne bei Béatrice zu beginnen? Nach und nach hat mich das Leben wieder durchdrungen, das Leid, die wahren Freuden, das Vergnügen, sprechen zu können, die Schönheit. Wie viele Nächte habe ich neben ihr gelegen und über die Welt nachgedacht, als wäre sie, Béatrice, mein Schlüssel zur Wahrheit!
     
    Béatrice strahlt. Ich begleite sie, so gut ich kann.
     
    Nichts deutet auf ihre Krankheit hin. Sie ist immer gleich schön, elegant, freundlich, optimistisch und aufmerksam. Doch sie schafft es kaum noch die Treppe hinauf und muss alle drei Monate für eine Ewigkeit das Bett hüten. Sie lässt sich nicht das Geringste anmerken. Manchmal, wenn sie sehr müde ist, schreit sie ihre Verzweiflung darüber heraus, dass sie gar nicht als krank angesehen wird. Das wirft sie dann der ganzen Welt vor. In Wirklichkeit

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