Ziemlich beste Freunde
aber wirft sie sich ihre eigene Lebensfreude vor. Sie würde sich zu gern gehen lassen. In solchen Momenten biete ich ihr meine Schulter an, sie weint sich aus und macht anschließend weiter.
Am Abend des Vortrags kommt diese Lebensphilosophie in ihrer tiefen Ruhe und ihrem Lächeln zum Ausdruck. Ich betrachte die fünfhundert Menschen im Saal, die alle beeindruckt sind von ihrer Kraft. Niemand räuspert sich oder hustet, es herrscht höchste Aufmerksamkeit. Da ist es, ihr Leben, geboren aus dem ersten Atem und erleuchtet von ihrer Vorstellung von der Ewigkeit, ungeachtet aller Widrigkeiten. Was soll ich nach einer solchen Demonstration noch groß sagen, außer dass es sich mit einer Behinderung gut leben lässt, wenn man nicht allein ist, wenn man so viel Kraft an seiner Seite spürt, die einen selbst in der Bewegungslosigkeit elektrisiert.
Ohne Béatrice hätte ich nicht so gekämpft. Während meines einjährigen Krankenhausaufenthalts entdeckte ich eine Welt, die mir bis dahin entgangen war, eine Welt, die ich nie aus der Nähe betrachtet hatte – die des Leids. Ich kannte nur Béas Leid. Es war eine private Angelegenheit, kein gesellschaftliches Phänomen. Aber wenn man einmal selbst neben Menschen, die vor Schmerzen schreien, auf der Intensivstation gelegen hat, wenn man die Einsamkeit in den Krankenhauszimmern kennengelernt hat, dann entwickelt man eine andere Sicht der Dinge.
Jenseits der Worte, jenseits der Stille entdeckt man die eigene Menschlichkeit.
Der Körper, den man bisher vergöttert hat, verblasst allmählich zugunsten eines erneuerten Geistes, einer vertieften Spiritualität. Eine Kehrtwendung des Herzens.
Auf dem Grunde seines Herzens, in der Innerlichkeit, im eigenen Mysterium entdeckt man den Anderen.
Der glatte, geschniegelte Privilegierte, der ich einmal war und der heute gekreuzigt auf seinem Bett liegt, malt sich ein Miteinander zwischen einer aufrecht stehenden und einer liegenden Menschheit aus. Das universelle Kreuz als Ausgangspunkt einer neuen Welt.
15 Khalil Gibran, Der Prophet. Aus dem Englischen von Ursula Assaf, Patmos Verlag.
16 Eine Sendung namens La marche du siècle , in der ich über die Zeit unmittelbar nach dem Unfall berichtet habe.
Die Zypressen von Béatrice
Béatrice kommt erneut ins Krankenhaus, es wird das letzte Mal sein. Wie eine moderne Karmeliterin lebt sie in einer Art durchsichtiger Plastikkugel. Um zu ihr zu kommen, muss ich durch eine erste Desinfektionskammer, mich von Kopf bis Fuß in keimfreies Weiß hüllen. Béa ist am anderen Ende des Gangs. Noch drei Türen. Ein desinfizierter Stuhl erwartet mich. So verbringen wir zwei Monate, ohne uns näherkommen zu können, durch das Plastik sehen wir uns beide nur verzerrt, verschwommen.
Béatrice bekommt eine Sepsis. Sie behält nichts mehr bei sich, nicht einmal mehr Wasser. Ihr bleibt nichts anderes übrig, als den ständigen Schleim in ihrem Mund immerzu mit einem Mulltuch abzuwischen. In dieser schwierigen Zeit bin ich bei ihr, hinter dem Vorhang, der für Keimfreiheit sorgt.
Sie erzählt ihrem Vater: »Weißt du was, Papa? Ich habe Christus gesehen. ›Wisch dir den Mund an meinem Mantel ab‹, sagte er, ›er ist aus einem Stoff, der alle Befleckung tilgt‹«. Geduldig greift sie zu einem weiteren Mulltuch. Ich habe dich reingewaschen.
Hülle dich in meinen Mantel der Zärtlichkeit.
Ihre letzte Zeit auf Erden verbringt Béatrice im Licht dieser festen Hoffnung, in dieser aktiven Erwartungshaltung.
Drei Tage vor ihrem Tod darf sie aus ihrer Plastikkugel. Es ist zu spät. Ihre Augen sind geschlossen, es ist kaum noch Leben in ihr.
Unsere Kinder kommen, setzen sich nacheinander auf meinen Schoß. Ich erzähle ihnen von ihrer Mutter, sie schluchzen, dann gehen sie wieder hinaus in ihren Verkleidungen.
»Dein Wille geschehe«, sind Béatrice’ letzte Worte.
Sie sprach sie aus und versank noch ein wenig tiefer in ihrem Bett.
Ich darf sie mit nach Hause nehmen. Die Krankenschwestern ziehen Béa ihr erdfarbenes Kostüm an. Wir betten sie neben dem Kamin auf die Chaiselongue, auf der sie sich immer so gern ausgeruht hat. Abdel weint. Drei Tage bleibt sie inmitten ihrer Freunde und Familienangehörigen. Mit geröteten Augen sorgt Céline, das Au-pair-Mädchen, dafür, dass immer etwas zum Essen auf dem Tisch steht. Mein Vater kümmert sich um die Bestattung. In Tränen aufgelöst erzählt er mir, Béatrice habe ihn das Beten gelehrt. Abdel holt ihre
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