Ziemlich beste Freunde
bei den Kunstversteigerungen im Drouot mache. Als die Versteigerer nicht reagieren, springt Abdel schimpfend von seinem Stuhl auf und reißt meinen Arm hoch, wodurch er im ganzen Körper Spasmen auslöst: »Schauen Sie doch her, er hat ein Gebot abgegeben!« Große Heiterkeit im Saal.
Wir gehen ein paar Tage hintereinander hin und ersteigern fünf Wohnungen in den angesagten Vierteln. Abdel »verwaltet« die Wohnungen: Er schickt seine Schergen hin, um die Mieter rauszuschmeißen, lässt die Wohnungen mehr schlecht als recht in Stand setzen und »akquiriert« dann neue Mieter.
Es gibt keinerlei Buchführung, wir verdienen überhaupt nichts daran und ich verkaufe die Wohnungen wieder.
*
»Clara,
umgehen Sie die Verzweiflung, formen Sie mich einfach und genügsam aus unserem ausgedünnten Gedächtnis. Setzen Sie meiner Zerstreutheit Ihre Grenzen, geben Sie mir Halt durch Ihre Gesten, umfassen Sie mich mit Ihren Absichten, bauen Sie mich aus meinen Trümmern wieder auf. Was kann ich Ihnen bieten, zerfallen und eindimensional, wie ich bin?
Wie gern fühlte ich Ihre Hände, Ihren Mund auf meiner Stirn, die mich in Teilen zu neuem Leben erweckten, eingeschränkt, aber verdichtet.
Jeden Tag geben mir Ihre Briefe die Freiheit zurück, ich liebe es, in Ihren Worten meine Empfindungen wiederzuentdecken. Dieser kraftlose Körper verweigert mir die vergangenen Augenblicke, zeichnen wir also die gegenwärtigen Momente auf.
Fügen wir von nun an einen Tag an den anderen, um uns eine Vergangenheit zu erschaffen, und wir werden ein gemeinsames Gedächtnis, einen neuen Horizont haben.«
Eine Welt in den Wehen
Die christlichen Konzepte – Alterität, Meditation, Genügsamkeit – gehörten lange Zeit zu den grundlegenden Konzepten des Abendlandes. Der Humanismus ging daraus hervor. Heute sind sie in der westlichen, von Wirtschaft und Finanzen beherrschten Welt in Vergessenheit geraten. Bei den Ärmsten der Armen haben sie Zuflucht gefunden.
Die sechs Gebote der Tetras:
– Nicht das Fehlen des Körpers macht die Behinderung aus, sondern das des Anderen. Lerne ihn kennen.
– Stille wirkt befreiend. Halt den Mund.
– Neben den Schmerzen bleibt gerade genug Zeit fürs Wesentliche. Vergeude sie nicht mit belanglosen Dingen.
– Du bist nicht allein. Lerne den Trost kennen.
– Die Lähmung lehrt Geduld. Warte ab!
– Wie verwundbar wir sind! Sei hilfsbereit, solidarisch und bescheiden.
Das einzige Gebot in der Geschäftswelt:
– Der Polysensualismus 23 schreit nach mehr. Immer mehr Ich.
Ausschweifungen, Paradiese, Erregungszustände, Lärm und Versäumnisse im Überfluss.
Durch meinen Unfall habe ich die barbarische Kehrseite des Glücks kennengelernt: das Elend der Einsamkeit; die Arbeitslosen, die zu Krüppeln werden; die fehlenden Zukunftsperspektiven für Jugendliche; das gierige Anhäufen von Vermögen … Ich habe die Härte eines Systems erkannt, das ausschließlich auf der Macht des Kapitals beruht, habe erkannt, dass die weltweite Verknappung der Zeit die Zerstörung der sozialen und familiären Netze nach sich zieht.
In den Stunden, die ich im Rahmen von Vorbereitungskursen für angehende Wirtschaftsstudenten gebe – Abdel schläft dort immer –, kommt die Botschaft gut an:
– Wohlstand zu schaffen geht besser, wenn man die Werte achtet, die für behinderte Menschen selbstverständlich sind. Halten Sie danach Ausschau, es sind auch Ihre Werte.
– Man kann sich nicht immer weiter bereichern. (Je weniger Gewinne weitergegeben werden, desto mehr bricht die Nachfrage ein: Das führt zu Schließungen.) Ein Vertrag hat nur dann Gültigkeit, wenn er beiden Seiten zum Vorteil gereicht, wenn die Unternehmensgewinne verteilt werden und der Wohlstand der Nation den Bedürftigen zugutekommt.
– Finden Sie sich angesichts des Großkapitals nicht mit der Atomisierung der Gesellschaft ab – schließen Sie sich in Parteien, Gewerkschaften, Verbänden etc. zusammen. Unterschätzen Sie nicht die Macht der Massen.
– Lassen Sie undurchsichtige Instanzen, die sich jeglicher Kontrolle entziehen, nicht gewähren; setzen Sie Ihr Recht durch, damit der Wirklichkeit Gehör verschafft und die Gerechtigkeit wiederhergestellt wird.
– Nutzen Sie die moderne Informationstechnologie, um aufzurütteln.
– Die Globalisierung sollte nicht auf dem Niveau des Kapitals stattfinden, sondern auf dem des Bürgers.
Erhebt euch,
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