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Ziemlich verletzlich, ziemlich stark: Wege zu einer solidarischen Gesellschaft (German Edition)

Ziemlich verletzlich, ziemlich stark: Wege zu einer solidarischen Gesellschaft (German Edition)

Titel: Ziemlich verletzlich, ziemlich stark: Wege zu einer solidarischen Gesellschaft (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jean Vanier , Philippe Pozzo di Borgo , de Laurent Cherisey
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dass seine Mutter starr war vor Angst, als sie ihn nach dem Unfall schrecklich leiden sah.
     
Kaum hatte sie den Raum betreten, ging sie in Tränen aufgelöst wieder hinaus. Schließlich bat ich sie, sich bei ihrem nächsten Besuch ein bisschen zusammenzureißen. Ich wollte, dass sie sich neben mich setzt und wartet, bis sie sich beruhigt hat, so dass wir uns gegenseitig trösten können, anstatt mir ansehen zu müssen, wie sie tieftraurig weggeht und sich grämt, weil sie nicht mit der Situation fertig wird.
     
    Viele Eltern leiden sehr darunter, dass sich der Lebensweg ihres Sprösslings von dem anderer Kinder unterscheidet. Die Tatsache, dass ihr Sohn oder ihre Tochter nicht die üblichen Kriterien erfüllt, belastet sie derart, dass ihre Gedanken manchmal nur noch um die Frage der Normalität kreisen. Sie kommen gar nicht dazu, sich die wertvollen Eigenschaften und besonderen Fähigkeiten ihres Kindes vor Augen zu führen. Die Eltern sind verletzt und neigen in ihrem Kummer dazu, sich zurückzuziehen. Sie brauchen unbedingt Unterstützung, damit sie zwischendurch Luft holen können und nicht von ihrer Arbeit und der Belastung durch ihre schwierige Situation erstickt werden. Es ist kein Leichtes, seinem Kind zu helfen, ein möglichst freies, selbstbestimmtes und glückliches Leben zu führen. Doch für den Betroffenen ist es ein genauso langer Weg.
    Ohne Rückhalt in der Gruppe kann man ihn kaum erfolgreich bewältigen.

WECHSELSEITIGE ABHÄNGIGKEIT
     
    Der Erfolg des Films Ziemlich beste Freunde war für alle überraschend, ganz besonders für die, auf deren Geschichte das Drehbuch basiert. Zwei Männer, jeder auf seine Weise mit einer Behinderung konfrontiert, werden aus unserer westlichen Gesellschaft, in der Vereinsamung zum Alltag gehört, ausgeschlossen. Sie unterstützen sich gegenseitig und finden so wieder einen Platz in der Gemeinschaft. Weil sie aufeinander angewiesen sind, lassen sie sich auf das Risiko einer Beziehung ein. Das fasst Abdel Sellou in seiner Autobiographie charmant in Worte, wenn er schreibt, Philippe habe ihm seinen Rollstuhl wie eine Krücke angeboten, auf die er sich stützen konnte. Doch das war nicht selbstlos von Philippe, wie er ganz klar sagt:
     
Ich weiß nicht, was ein freiwilliges Geschenk sein soll. Für mich ist es eine Art, mit mir ins Reine zu kommen, wenn ich mich den anderen zuwende. Nicht einmal ich gehe in einer Art kollektiver Heiligkeit auf und gebe, ohne zu nehmen. Als Mensch schöpfe ich meine Realität aus dem Blick des anderen, und umgekehrt gilt dasselbe.
     
    Wir sitzen alle im selben Boot, und unsere wechselseitige Abhängigkeit ist der Motor. Verletzliche Menschen haben die erstaunliche Fähigkeit, uns dies vor Augen zu führen. Sie sind in mancher Hinsicht schwach und auf Beziehungen angewiesen, wohingegen starke Menschen sich nie auf eine Beziehung einlassen. Starke Menschen drohen uns oft zu erdrücken. Wenn wir mit ihnen konfrontiert werden, sind wir entweder versucht, selbst dominanter aufzutreten, oder wir ziehen uns hinter unseren Schutzwall zurück.
    Gerade Menschen mit Behinderung haben, manchmal zu einem sehr hohen Preis, gelernt, dass die gesellschaftlich gültigen Werte – Leistung, Effizienz, Rentabilität – nicht mit Glück einhergehen. Glück hängt vielmehr mit unserer wechselseitigen Abhängigkeit zusammen.
    Der berühmte Physiker und Mathematiker André-Marie Ampère, ein überzeugter Humanist, sagte: »Und wenn ich alles besäße, was man sich nur wünschen kann, wäre ich doch nicht glücklich, weil mir alles fehlen würde, nämlich das Glück der anderen.«
    Wenn uns klarwird, dass wir das Andere brauchen, dass wir zusammen da sind, einer für den anderen, dann erst begreifen wir, was wechselseitige Abhängigkeit wirklich bedeutet. Es geht nicht darum, sich zu versklaven, sich abhängig zu machen, die Verletzlichkeit zu verherrlichen oder die eigenen Fähigkeiten zu verleugnen. Es geht vielmehr um einen Lernprozess und um das Akzeptieren der Tatsache, dass wir etwas von denen annehmen, die nicht im üblichen Sinn einen »Mehrwert« für die Gesellschaft darstellen.
    Wir behaupten, dass wir uns, wenn wir uns auf eine Freundschaft mit den Verletzlichen einlassen, von einer egozentrischen, auf Konkurrenzdruck und Unterdrückung basierenden Welt befreien und zum Aufbau einer menschlicheren Zukunft beitragen. Das mag übertrieben oder gar unmöglich klingen, aber zu diesem Ergebnis haben uns unsere jeweiligen Erfahrungen geführt.
    Die

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