Zigeunerprinz
gekommen, aber sie hatte nicht wirklich daran geglaubt. De Landes hatte gewußt, daß der Mordversuch stattfinden sollte, das war klar. Weniger klar war dagegen, ob der Prinz, wenn es nach de Landes gegangen wäre, den Anschlag hatte verhindern oder als Sündenbock dastehen sollen. Letzteres schien wahrscheinlicher -aber schließlich hatte sich der Mann der Kompliziertheit seines Planes gerühmt. In Anbetracht seiner Position im Ministerium Louis Philippes war nicht einzusehen, warum er den König umbringen wollte. Hatte er geglaubt, in irgendeiner Weise zu profitieren, wenn das Attentat auf den König fehlschlug? Hatte er dafür gesorgt, daß Roderic und seine Truppe, die für die Vereitelung solcher Verbrechen berühmt waren, die Dreckarbeit erledigten, während er den Ruhm dafür einheimste?
Aber wer würde König, wenn Louis Philippe getötet werden sollte? Der junge Comte de Paris, Enkel des Königs, dessen Vater vor fünf Jahren bei einem Kutschenunfall ums Leben gekommen war, war der Thronfolger. Zweifellos würde eine Regentschaft einberufen, wenn er den Thron bestieg, die vielleicht von seiner Mutter Helen von Mecklenburg-Schwerin ausgeübt würde. Aber auch ehrgeizige Männer könnten in einem solchen Fall dem Thron näher kommen, Männer wie de Landes, die vorauszudenken verstanden. Konnte das dahinterstecken ?
Machte es einen Unterschied? Der König war nicht ermordet worden. Roderic und seine Männer waren eingeschritten und hatten das verhindert. Der Kellner, der das Attentat ausgeführt hatte, war bestimmt tot, und mit ihm war der Name des Mannes und der Grund, weswegen er ein solches Risiko eingegangen war, ins Grab gegangen.
In jenem Moment, als der Kellner erstochen wurde, hatte sie instinktiv auf das neueste Mitglied der Truppe, auf Luca den Zigeuner geschaut. Er hatte in der Nähe gestanden, obwohl sie nicht sagen konnte und lieber keine Vermutungen darüber anstellen wollte, ob er die todbringende Klinge geworfen hatte - und wenn ja, auf wessen Befehl.
An diesen Dingen hatte sie keinen Anteil. Eine andere Frage beschäftigte sie viel mehr: Würde de Landes zu dem Schluß kommen, daß sie versagt hatte, und wenn ja, was würde er dann mit ihrer Großmutter machen? Eine weitere Frage war, ob Roderic sich im klaren darüber war, daß sie ihn wohlüberlegt in das Fiasko heute nacht hineingezogen hatte. Sie fragte sich auch, ob es einen Grund außer ihrer persönlichen Sicherheit dafür gab, daß er Michael befohlen hatte, sie zu retten und ins ruthenische Haus zurückzubringen. Und wenn ja, was hatte er dann mit ihr vor? Ihre Angst wurde nicht gerade beschwichtigt, als sie im Licht einer vorbeiziehenden Gaslaterne bemerkte, wie Juliana sie mitleidig anschaute.
Mara befeuchtete sich die trockenen Lippen. »Wo ist Roderic? Warum ist er zurückgeblieben?«
»Es wird eine offizielle Untersuchung geben«, antwortete Juliana mit ruhiger Stimme. »Alle, die am Geschehen beteiligt waren, werden ihre Version der Ereignisse zu Protokoll geben müssen. Zweifellos wird König Louis Philippe persönlich Bericht erstattet haben wollen, vor allem angesichts der Position meines Bruders hier.«
»Seiner Position?«
»Als offizieller Repräsentant unseres Landes.«
»Ich verstehe. Glauben - glauben Sie, daß auch wir zum Verhör gerufen werden?«
»Das erscheint mir unwahrscheinlich. Dies ist eine der wenigen Gelegenheiten, bei denen es von Vorteil ist, eine Frau zu sein. Jedenfalls«, fügte Roderics Schwester abwägend hinzu, »glaube ich, können wir uns darauf verlassen, daß Roderic uns abschirmt.«
Waren die Worte absichtlich doppelsinnig gewählt? Mara konnte nicht sicher sein, und sie wagte nicht zu fragen.
Als sie wieder im ruthenischen Haus waren, begannen sie zu warten, wenn sie auch nicht genau wußten, worauf. Wie auf eine wortlose Absprache hin versammelten sie sich im Empfangssalon, da der Anlaß schon fast formellen Charakter hatte. Hastig wurde ein Feuer entfacht und wurden Tabletts mit Wein und verschiedenen Kleinigkeiten und Keksen ge-bracht. Hitzige Wortwechsel entspannen sich darüber, was wann eigentlich tatsächlich geschehen war. Sie sprachen auch über das Warum, allerdings nicht über den Grund für ihre Anwesenheit, dank derer sie es hatten verhindern können. Es war, dachte Mara, eine Übung in vollendeter Diplomatie.
Roderics Truppe war nicht dumm, weder als Kollektiv noch einzeln. Sie wußten, daß ihr Prinz nicht vorgehabt hatte, den Ball zu besuchen, wußten, daß er seine
Weitere Kostenlose Bücher