Zigeunerprinz
Erfahrung war erinnernswert, denn sie wird sich keinesfalls wiederholen.«
14. Kapitel
Revolution lag in der Luft. Seit fast sechzig Jahren war das Volk nicht so wütend gewesen, hatte es seiner Unzufriedenheit mit der Regierung nicht so lautstark Luft gemacht. Außerdem und vor allem anderen war man gelangweilt. Man blickte auf die Tage des napoleonischen Imperiums zurück und sehnte sich seufzend nach Frankreichs vergangenem Ruhm, dabei vergessend, wieviel Blut Frankreichs Jugend dafür vergossen hatte und welch enorme Summen er gekostet hatte. Die Köpfe der Aristokraten des Ancien Regime waren auf der Place de la Concorde gerollt, und niemand hatte ihnen nachgetrauert, aber ach, was waren das für Zeiten gewesen, als der Sonnenkönig in Versailles regiert hatte und alle
Welt angereist war, um La belle France die Ehre zu erweisen.
Und wie anders war der Hof von Louis Philippe. Von Ruhm oder Pracht war dort nichts zu spüren. Es gab nur pompöse Rechtschaffenheit, magere Zeiten und, wie ein kluger Mann es ausdrückte, »eine hasenherzige Monarchie, die zuläßt, daß Frankreich gedemütigt wird«. Das Land, das sich einst vom Ärmelkanal bis zum Rhein, von der Nordsee bis zum Ottomanischen Imperium erstreckt hatte, war auf weniger als die ursprünglichen vornapoleonischen Grenzen zurückgestutzt worden. Aufsehenerregende Ereignisse, wichtige Revolutionen und Veränderungen in den Regierungen anderer Länder hatten stattgefunden, während Frankreich untätig dabeistand. Die Menschen verhungerten im Winter, ohne daß ihnen jemand geholfen hätte. Man wurde von einer korrupten, vulgären Mittelklasse und einem lächerlichen, unrechtmäßigen König regiert: Es war wirklich zum Schämen. Eine Veränderung konnte alles nur zum Besseren wenden; schlimmer konnte es nicht werden.
Das Buch Geschichte der Girondins des Poeten und Politikers Lamartine, in dem die Revolution idealisiert und die Ausschreitungen des Terrors entschuldigt wurden, wurde überall gelesen und zitiert. Lamartine war äußerst begehrt als Sprecher auf reformistischen Banketten, die überall im Lande gegeben wurden. Auf diesen Banketten wurden die Gäste mit reichlich portionierten Reden über die allgemeine Misere und die Herrschaft des gemeinen Mannes gefüttert. Es schien ihnen zu munden. Der König und seine Ratgeber verfolgten die ungewöhnlichen Festmähler mit wachsendem Unbehagen.
Bei den Versammlungen im Salon des ruthenischen Hauses herrschte unvergleichliche Selbstzufriedenheit unter den immer langweiliger werdenden Gästen. Louis Philippe war ein anständiger und gemäßigter Mann. Seine Regierung war die stabilste seit der Revolution. Niemand wäre so verrückt, sich auf eine gewaltsame Veränderung mit all den damit verbundenen Gefahren einzulassen, gleichgültig wie laut Romantiker wie Lamartine über die Freiheit des Individuums predigten.
Aber während die Gesellschaft im großen Salon langsam ausdünnte und zusehends mittelständischer wurde, nahmen die Besucher in den Privatgemächern des Prinzen nicht nur zahlenmäßig zu, sondern stellten sich zunehmend radikaler gegen die augenblickliche Regierung. Hierher kamen die Autoren und Künstler, Bildhauer und Komponisten, die die Avantgarde der romantischen Bewegung dargestellt hatten; Hugo, Balzac, Madame Dudevant und Lamartine sowie Dutzende anderer. Sie unterhielten und stritten sich, tranken und rauchten manchmal kleine türkische Zigarren oder die exotische, mit Opiumkügelchen gefüllte Hukah. Wie ernst sie nahmen, was sie zu sagen hatten, wie aufrichtig sie die Reformen herbeisehnten, welche die so begeistert ersehnte Herrschaft des gemeinen Mannes bringen sollten, war schwer zu sagen.
Der Strom der Kaufleute, Modisten, Doktoren, Anwälte, Mägde, Friseure und Kutscher zog weiterhin durchs Haus. Die Truppe kam und ging, wurde mit mysteriösen Aufträgen beschäftigt. Mara hatte erwartet, daß diese Aktivitäten nach der Aufdeckung des Mordanschlags nachlassen würden, aber sie schienen zuzunehmen. Die gesammelten Informationen wurden nur selten in Anwesenheit der Damen ausgewertet, aber gelegentlichen Anspielungen war zu entnehmen, daß sie wenig beruhigend waren.
Eines Spätabends fuhr eine schnelle, leichte Reisekutsche in den Hof ein. Die Goldverzierungen strahlten, der türkise Lack glänzte, und das Wappen auf der Tür war königlich. Zwei livrierte Lakaien standen hinten auf der Kutsche, und eine berittene Leibwache begleitete sie. Die Tür wurde geöffnet und die
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