Zigeunerprinz
hob die Hände an den Mund, zerrte mit den Zähnen an den Knoten, aber ohne etwas auszurichten.
Durch ihre Gedanken trieb eine Geschichte, die ihr Großmutter erzählt hatte. Einst hatte man Angeline in New Orleans gefangengenommen und als Köder benutzt, um Rolf zu fangen. Er war um ihretwillen in die Falle gegangen, hatte offenen Auges dieses Opfer erbracht. So etwas konnte doch bestimmt nicht wieder passieren?
Es stand zu bezweifeln, daß sie ein geeignetes Lockmittel war. Rolf hatte Angeline geliebt, Roderic begehrte sie dagegen nicht einmal mehr. De Landes würde erneut enttäuscht werden. Ob von der Droge, die sie eingeatmet hatte, ob vom langen Liegen oder der Kälte im Raum, sie fror erbärmlich. Sie hatte den Schal verloren, den sie getragen hatte, und nur noch die Ärmel ihres Gewands, um sich vor der feuchten, alles durchdringenden Kälte zu schützen. Sie rollte herum und versuchte, die Ecke des Lakens zu fassen zu bekommen, damit sie es über sich ziehen konnte. Ihre Füße schlugen gegen die Wand, und sie stieß einen Schmerzensschrei aus, da der Schlag ihre Fußgelenke stauchte, die von der langen Fesselung angeschwollen waren.
Schritte erklangen außerhalb des Zimmers. Eine Tür öffnete sich irgendwo, ohne daß sie es sehen konnte. Ein Scharren war zu hören, dann watschelte eine Frau in ihr Blickfeld. Sie war fast ebenso breit wie hoch, strähniges graues Haar hing unter ihrem Kopftuch hervor, und eine fleckige Schürze bedeckte ihren vorspringenden Bauch. Sie hatte erstaunliche Ähnlichkeit mit dem schlaksigen Jungen, der de Landes geholfen hatte, Mara zu entführen, war vielleicht seine Mutter. Die Frau grunzte, als sie feststellte, daß Mara wach war, machte dann schwerfällig kehrt und marschierte wieder hinaus.
»Warten Sie!« rief Mara. »Gehen Sie nicht!«
Sie hätte sich das ebensogut sparen können. Die Tür schloß sich, und die schweren Schritte der Frau verschwanden außer Hörweite.
Mara schloß die Augen, plötzlich von Verzweiflung ergriffen. Sie dachte an das ruthenische Haus, stellte sich vor, wie erstaunt man dort über ihr Verschwinden wäre. Natürlich würde es nicht den Aufruhr geben, der ausgebrochen war, als Prinzessin Juliana verschwunden war; trotzdem würden sie sich Sorgen machen. Die Bediensteten und die Mitglieder der Truppe mochten sie gern, und Rolf und Angeline würden sich, wenn nicht aus Zuneigung, so doch Großmutters wegen sorgen. Grandmere wäre fassungslos, wenn sie davon erführe. Selbst Roderic würde betroffen sein und alles in seiner Macht Stehende tun, um sie zu finden - das begriff sie, sobald sie darüber nachdachte. Er war, so betrachtete er es wenigstens, für sie verantwortlich. Sie genoß seine Protektion, solange sie als Gast unter seinem Dach wohnte.
Wie lange würde es dauern, bevor man Alarm schlug? Nur das Mädchen wußte, daß sie mit de Landes gesprochen hatte, und sie kannte nicht einmal seinen Namen. Kein Lakai war dabei gewesen, niemand hatte gesehen, wie man sie weggetragen hatte, es sei denn durch Zufall. Stunden würden vergehen, bevor man sie vermißte. Und auch dann würde man wahrscheinlich nicht gleich mit der Suche beginnen. Es hatte in letzter Zeit zu oft Alarm gegeben. Nach der unnützen Panik Julianas und Lucas wegen wäre es nicht überraschend, wenn sich alle erst einmal zurücklehnten und abwarteten, ob sie nicht von allein zurückkäme.
Sie dachte daran, wie de Landes und sein Gehilfe in das ruthenische Haus eingedrungen waren und sie gleich einem Paket davongetragen hatten, das sie abholen wollten. Langsam begann Wut in ihr aufzusteigen. Roderics Arroganz wirkte neben der anmaßenden Falschheit von de Landes nur natürlich und angenehm. Der Franzose glaubte, mit den Menschen nach seinem Belieben umspringen zu können, sie nach seinen Vorstellungen manipulieren und sie dazu zwingen zu können, sich seinem Willen zu fügen. Er nahm sich die Freiheit, in fremde Leben einzugreifen, sie zu zerstören, so wie ein Kind ein Spielzeug zerstören mochte, dessen es überdrüssig geworden war. Man sollte ihm Einhalt gebieten. Man mußte ihm Einhalt gebieten. Sie hatte nicht die Macht dazu, aber sie konnte ihr eigenes Verhalten beeinflussen. Sie brauchte ihn nicht mehr zu fürchten. Grandmere Helene war im ruthenischen Haus in Sicherheit und konnte keinen Schaden erleiden. Was immer de Landes auch von ihr wollte, er würde kaum zufriedengestellt werden.
So versunken war sie in ihre Gedanken, daß sie die zurückkehrenden
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