Zigeunerprinz
Kälte steckte ihr in den Knochen, grub sich in ihre Gelenke, bis sie schmerzten. Ihre Füße waren taub, und sie konnte ihre Finger nicht spüren. Ein starker Schauder überlief sie. Tief aus ihrer Kehle stieg ein leiser, klagender Laut. Das heisere Stöhnen drang in ihr Gehirn wie Flüssigkeit, die durch ein dickes Gazetuch gefiltert wird. Sie öffnete die Augen. Sie schloß sie augenblicklich wieder und versuchte, ihre Übelkeit hinunterzuschlucken. Ein weiterer Schauder überlief ihren Leib.
Sie war vorsichtiger, als die Übelkeit nachließ, hob diesmal kaum die Lider. Sie lag auf dem Bauch in einem Bettalkoven. Die Matratze unter ihr war klumpig, mit einem schmierig-grauen Laken überzogen und roch nach sauren Federn und ungewaschenen Leibern. Die Bettkammer stand auf einem Dachboden, denn die Decke war schräg. Der Raum war bis auf einen hinfälligen Stuhl und einen verschrammten Holztisch unter zwei hohen Fenstern vollkommen kahl. Die Fenster selbst hatten sich im Rahmen verzogen, so daß der Wind durch die Spalten pfiff. Hinter dem Glas war graues Zwielicht zu sehen. Die Luft war kalt, vor allem in dem feuchten Raum, der nie von der Sonne erhellt wurde.
Sie versuchte, sich zu bewegen, sich umzudrehen, und japste, als Schmerzen durch ihre Arme und Beine schossen. Sie war angebunden, die Fesseln schnitten ihr ins Fleisch und unterbanden die Blutzufuhr. Sie biß die Zähne zusammen, richtete sich ganz langsam auf und drehte sich um, bis sie auf dem Rücken lag.
Lange Augenblicke lag sie nur da, vor Erschöpfung schnaufend und die Übelkeit zurückkämpfend. Als das Würgen endlich nachließ und ihr Atem leichter ging, kehrte ihre Erinnerung zurück. De Landes. Der widerwärtige Geruch einer Droge. Die Kutsche.
Wo war sie? An dem kahlen Raum mit seinen grauen, wasserfleckigen Gipswänden konnte sie das nicht erkennen. Das einzige, was sie durch die schmutzigen Fenster sah, war ein Stück Dach und einen Streifen Himmel, lilagrau, als wür-de er Trauer tragen. Sie schloß die Augen und lauschte. Zuerst hörte sie überhaupt nichts, dann wurde sie langsam auf ein schreiendes Kind aufmerksam. Irgendwo im Haus wurde eine Tür zugeschlagen, und das Schreien hörte auf. In der Ferne war Gemurmel zu hören, das sich zu den Kampfrufen eines Protestzuges auf der Straße steigerte. Die Stimmen klangen kämpferisch, aber nicht so wütend und hitzig wie damals, als sie und Trude und Juliana dem Mob gegenüber gestanden hatten. Unter den Stimmen waren auch Schritte zu hören. Das Geräusch wurde lauter, war direkt unter dem Fenster und verklang dann in der Ferne.
Also war sie immer noch in Paris. Dem Zimmer nach zu schließen, befand sie sich in einem ärmeren Arrondissement. Die Stimmen auf der Straße mochten Studenten gehören, was bedeuten konnte, daß sie sich möglicherweise irgendwo auf dem linken Ufer, in der Nähe des Quartier Latin befand. Es war nur eine Vermutung; sie konnte nicht sicher sein. Ganz bestimmt hatte sie keine Ahnung, warum sie dort sein sollte.
Ebensowenig wußte sie, warum man sie entführt hatte. Ihr fielen all die Geschichten ein, die sie über junge Mädchen gehört hatte, welche man aus ihren Wohnungen oder von der Straße weg entführte, um sie in übel beleumndete Häuser zu zwingen, wo man sie in eine entwürdigende Sklaverei der Sinne verkaufte oder in ferne Länder verhökerte. Doch gleich darauf verwarf sie den Gedanken wieder. Sie war von de Landes entführt worden, nicht von irgendeinem Unbekannten. Es mußte einen tieferen Grund geben.
Hielt er sie als Geisel, bis ihre Großmutter die Schulden einlöste? Oder war das lediglich ein Vorwand gewesen, unter dem er ihr sich nähern und mit dem er sie lang genug ablenken konnte, um sie in seine Macht zu bringen?
Rache war eine Möglichkeit. Aus seiner Sicht hatte sie ihn hintergangen. Vielleicht vermutete er, daß sie Roderic in irgendeiner Weise vor dem Ball auf die drohende Gefahr aufmerksam gemacht hatte und dieser darum das Attentat auf Louis Philippe hatte verhindern können. De Landes war zutiefst enttäuscht gewesen; das hatte sie in jener Nacht wie heute nachmittag an seiner Miene ablesen können. Es gab noch eine andere Möglichkeit. De Landes hatte mehr als einmal angedeutet, daß er sie attraktiv fand. Ihre Lippen wurden schmal bei dem Gedanken, und sie ballte ihre Finger zu Fäusten, zerrte an den Schnüren um ihre Handgelenke.
Die Fesseln waren aus Jute. Sie waren steif und kratzig, die Knoten fest und kompliziert. Sie
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