Zigeunerprinz
Theater gehen wollten?« fragte Roderic. »Oder haben Sie nur Ihre Diamanten und Operngläser verlegt, genau wie Ihren Namen?«
Anscheinend ging er kommentarlos über Trudes Kritik an ihr hinweg. Das war ihr nur recht. »Nichts derart Unangenehmes. Mir war einfach nicht danach zumute.«
»Sie haben in kurzer Zeit viel geleistet, vielleicht sogar zuviel.«
»Gefällt es Ihnen nicht?«
»Wie könnte es das? Sie haben ein Wunder an Reinlichkeit vollbracht. Aber ich habe mich noch nicht als Sklaventreiber niedergelassen.«
Sie drehte sich zu ihm um. Er stand mit dem Rücken zum Feuer. Wie groß er in seiner weißen Uniform wirkte, wie weit er sie zu überragen schien. »Sind Sie aus irgendeinem Grund nicht mit mir zufrieden? Wären Sie gern ins Theater gegangen? Sie brauchen nicht meinetwegen hierzubleiben.«
Es waren nur Worte, Höflichkeiten, aber sie wartete mit angehaltenem Atem auf seine Antwort.
»Ich bin sehr zufrieden.«
Sie hätte nicht sagen können, was sie eigentlich erwartet hatte; trotzdem ärgerte sie seine Antwort. »Luca scheint sich Ihrer Mißbilligung entzogen zu haben, weil er ein Zigeuner ist. Vielleicht hätte ich lediglich sagen sollen, daß ich ebenfalls einen einzigen Grund habe - ich bin eine Frau.«
»Den kann ich nicht akzeptieren. Die meisten Frauen wären in diesem Augenblick schon unterwegs, würden sich auf die Lichter, den Lärm und die Spannung freuen und die Begleitung von vier aufmerksamen Männern und einer Amazone genießen.«
»Ich bin nicht wie die meisten Frauen.«
»Das vermute ich schon seit einiger Zeit.«
Was meinte er damit? Sie zweifelte nicht daran, daß seine Worte einen tieferen Sinn hatten, aber sie konnte es sich nicht leisten, jetzt darüber nachzudenken. Dennoch war es angenehmer, sich hier ein Wortgefecht mit ihm zu liefern, als einen Weg zu suchen, wie sie ihn verführen konnte. Sie wußte, daß sie dem Unvermeidlichen nicht ausweichen konnte, aber sie konnte dem Impuls nicht widerstehen, die Konversation auf jede nur denkbare Weise aufrechtzuerhalten.
»Luca war heute abend eigenartig, aber die Zigeuner sind überhaupt ein eigenartiges Volk.«
»Wanderer, Vagabunden und Wegelagerer, Wahrsager und Betrüger und allesamt verdammt? Man kann sie ausgezeichnet verstehen, wenn man sich klarmacht, daß sie seit Jahrhunderten über das Antlitz der Erde gejagt werden. Sie haben keine Heimat außer Mutter Erde, beanspruchen keinen Besitz und lassen bei anderen keinen gelten, haben nicht einmal ein Wort dafür, genausowenig wie übrigens für Pflicht. Überrascht das, wenn ihnen immer wieder genommen wurde, was sie besaßen, wenn sie immer wieder gezwungen waren, heimatlos, nackt und hungrig weiterzuziehen? Wenn die Pflicht sie nur an einen Herren band oder sie für einen fremden Staat sterben ließ?«
»Woher kommen sie, wo sind sie losgezogen? Wissen Sie das?«
»Die Wurzeln ihrer Sprache, des calo, stammen aus Indien. Etwa zur Zeit Alexanders des Großen wurden sie von ihrem Boden in jenem Land vertrieben. Sie waren keine Hindus. Ihre Religion war die älteste der Menschheit. Ihre höchste Göttin war Mutter Erde, deren Symbol die Kaurimuschel ist, und ihre Gesellschaft war matrilinear. Ihre Feinde gehörten einer patriarchalischen Gesellschaft an, die sich durch diesen Glauben gefährdet fühlte. Man sprach ihnen ihre Menschlichkeit ab, machte sie zu Wesen, die tiefer standen als die Unberührbaren oder Tiere und die keine Rechte vor dem Gesetz hatten. Sie flohen nach Makedonien, wo sie sich der Vorhut der Truppen Alexanders auf ihren Eroberungszügen zugesellten, und wurden so über die damals bekannte Welt verstreut.«
»Die Menschen halten sie meist für romantische Nomaden«, sagte Mara. »In Wahrheit sind sie zu bemitleiden.«
»Ja und nein. Sie finden Arbeit als Hirten, Pferdehändler, Zureiter und Metallarbeiter. Sie werden oft verachtet und umgebracht, immer weiter und weiter gejagt, bis sie zu gewitzten Dieben und Prostituierten und Kindsentführern wurden, um zu überleben. Aber sie besitzen auch eine leidenschaftliche Liebe zum Leben und zu ihrer Musik, zum Tanz und zum Gesang, mit dem sie diese Liebe ausdrücken. Sie sind seit etwa achthundert Jahren in Europa und seit fast fünfhundert in Westeuropa. Hier betrachtete man sie als Heiden, weil sie für die christliche Religion nur wenig übrighaben. Man nannte sie Mondanbeter und Dianas Waldhüter und verbrannte sie als Ketzer. Sie haben nie eine Heimat gekannt. Inzwischen wollen sie auch
Weitere Kostenlose Bücher