Zigeunerprinz
keine mehr und sind darum freier als Sie oder ich.«
»Sie scheinen sie sehr zu mögen.«
»Die Zigeuner sind in meinem Land gewesen, seit es Ruthenien gibt.« Er lächelte, und seine Miene wurde warm dabei. »Außerdem war mein Urgroßvater Russe, ein Graf, den sie >Goldener Wolf< nannten. Mein Vater hat diesen Titel übernommen. Der alte Graf liebte das Kämpfen, das Trinken und die Zigeunerinnen. Er heiratete die Tochter des ruthenischen Königs, aber man sagt, er habe den Sohn seiner Zigeunergeliebten in die königliche Kinderstube geschmuggelt, damit er zu seinem Erbe und zum zukünftigen König würde.«
»Sie fühlen sich Ihnen verwandt?«
»Vor allem, wenn mir die Last, ein zukünftiger König zu sein, allzu schwer wird.«
»Sie würden am liebsten Ihre Pflichten vergessen und ein Vagabund werden?«
»Warum nicht? Wen wird es in hundert Jahren kümmern, was ich heute tue?«
»Vielleicht Ihre Kinder?«
»Unerträgliche, triefnasige Bälger, ebenso destruktiv wie degeneriert? Ich entsinne mich meiner Kindheit noch zu gut, um ein Mitgefühl zu empfinden, das sie höchstwahrscheinlich nicht verdienen.«
Seine Söhne würden groß und stolz werden, seine Töchter engelsgleich mit goldenen Locken und süßem, reserviertem Lächeln. Zu so später Stunde würden sie in ihren langen, weißen Nachthemden hereinkommen, um ihre Gutenachtküsse zu empfangen. Mara verbannte das geistige Bild mit Mühe und mit der plötzlichen, seit Jahren nicht mehr empfundenen Angst, daß sie das zweite Gesicht ihrer Mutter geerbt haben könnte.
Die Verbindung mit Ruthenien wird Kummer bringen. Waren die Worte ihrer Mutter vielleicht eine Prophezeiung gewesen? Auch diese Erinnerung verscheuchte sie.
»Sie haben Verpflichtungen«, sagte sie mit leiser Stimme. »Sie sind der Prinz, ob es Ihnen gefällt oder nicht. Es gibt Dinge, die Sie tun müssen - die wir alle tun müssen.«
»Beklagenswert, aber wahr.«
Ein Scheit im Feuer brach und sank in die Flammen, die höher stiegen. An der Wand fuhr ein Luftzug über die schweren Wandbehänge. Draußen heulte der Wind über den Sims und um die fratzenhaften Wasserspeier. Das Haus war still; die Dienstboten waren zu Bett gegangen oder hatten sich in die warme Küche zurückgezogen. Die langen Korridore hinter dem Salon schienen vor Leere zu hallen.
Ein Instinkt ließ Mara einen Apfel von dem Obstteller aufnehmen. Er war rot und fest und fühlte sich kühl an. Das silberne Obstmesser lag neben der Schale, und sie nahm es mit der anderen Hand. »Möchten Sie einen Apfel mit mir teilen?«
Roderic starrte auf sie herab, auf die rote Frucht, die fast dieselbe volle Farbe hatte wie ihr Kleid, auf die sanfte Kurve ihrer Wangen und auf die dunklen Schatten, die ihre Wimpern darauf warfen. Die Blässe ihrer Haut über ihrem Kleid, ihr gerade gezogener und leicht rosa getönter Scheitel in ihrem schwarzen Haar lösten in ihm erstaunlich zärtliche Gefühle aus. Er wollte ihr das Messer aus der Hand nehmen, bevor sie sich schnitt, wollte sie dazu bringen, ihn ohne die Scheu anzusehen, die sie immer ausstrahlte. Er sprach fast ohne nachzudenken, um seine Gedanken geheimzuhalten.
»Bei den Zigeunern wirft ein Mädchen einen Apfel, wenn es sich einen Geliebten erwählt hat. Er symbolisiert das Herz.«
Der Apfel schien ihr aus der Hand zu fliegen. Sie hatte keinen bewußten Vorsatz gefaßt, ihn zu werfen. In einem Augenblick hielt sie ihn, im nächsten lag er in seiner Hand. Seine Finger schlossen sich fest darüber. Der Blick in seinen Augen war wachsam und fast strahlend, aber seine Stimme war leise, als er fragte: »Ist das Morgen endlich eingetroffen?«
Sie erwiderte seinen Blick. Ihre grauen Augen waren weit vor Überraschung über ihre Schüchternheit und vor Erregung. Das zarte Rosa des Errötens kroch unter ihre Haut, wärmte sie, vertrieb die Blässe. »Morgen?«
»Eine Unterhaltung, die wir einst führten, ein Versprechen, das Sie gaben.«
»Ich ... erinnere mich nicht.«
»Aber ich.«
Er trat auf sie zu, den Apfel in einer Hand, und nahm das Messer mit der anderen. Mit einer geschwinden Bewegung teilte er die Frucht und reichte ihr die Hälfte. Mit tiefer Stimme sagte er: »Sie zehren von mir, ich zehre von Ihnen. Wir sind das Mahl.«
Es klang nach einem Ritual oder einer Beschwörung. Langsam hob Mara den Apfel an ihren Mund und nahm einen kleinen Bissen. Der Prinz biß in seine Hälfte, kaute langsam und legte den Rest beiseite. Dann nahm er ihre Hand, zog sie auf die Füße
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