Zigeunerprinz
> Nieder mit Louis Philippe! < und >Tod dem König! < Als würde der Terror wieder auferstehen.«
»Das wäre gut möglich«, sagte Estes.
»Vielleicht sollten wir um einen weiteren solchen Skandal beten, damit der König die Rufe nach Reformen erhört?« sagte Balzac.
»Oder einen auslösen?« schlug Aurore Dudevant vor. Die Gruppe war so ernst, daß Mara ein kleiner Schauer durchlief. Sie hatte höflich alles mitangehört, was gesagt worden war, obwohl ihr nach wenigen Augenblicken wieder eingefallen war, daß ihre Großmutter ihr von dem Fall Praslin erzählt hatte. Jetzt fiel ihr wieder ein, wie das Gespräch begonnen hatte, und sie fragte: »Aber was hat das mit Monsieur Hugo zu tun?«
»Ihn faszinierte der Fall«, antwortete Balzac, »und zwar so sehr, daß seine gute Frau Angst bekam. Ich fürchte, genau das wollte er auch erreichen, obwohl man da nicht sicher sein kann. Schwer zu sagen, wie weit Hugos Selbstsucht eine Pose und wieviel davon echt ist.«
»Ego Hugo«, murmelte Mara mit einem Lächeln der Erinnerung, während sie dorthin schaute, wo Victor Hugo den Menschen zu seinen Füßen predigte und dabei emphatisch mit den Armen fuchtelte.
»Ganz genau. Er war ein riesiges, häßliches Baby, aber selbst jetzt, nachdem er zu einem präsentablen Mann herangewachsen ist, benimmt er sich, als hätte er immer noch seine Windeln an.«
»Aber er ist ein großer Mann, ein großer Schriftsteller«, sagte Estes.
»Das versteht sich von selbst.« Madame Dudevant zuckte mit den Achseln. »Wer sonst könnte ein Buch über einen Buckligen und eine Kathedrale schreiben und damit ganz allein die Architektur eines Jahrhunderts beeinflussen, ganz zu schweigen davon, daß er Notre Dame vor dem endgültigen Verfall gerettet hat?«
»Ich sehe Madame Juliette nirgendwo, glaube ich, und ich habe soviel über ihre Schönheit gehört. Ich dachte, sie und Madame Hugo würden sich verstehen.« Estes schaute sich hoffnungsvoll um, während er sprach.
»Es ist die andere Mätresse, Madame Leonie, die Adele Hugo besucht. Hugo wurde mit Leonie in flagranti von Leonies Mann ertappt, und er mußte ihretwegen wegen Ehebruchs ins Gefängnis.«
»Ach ja. Man hat von dieser Eskapade gehört.«
»Wer hätte das nicht? Aber wie Lamartine damals bemerkte: > Frankreich ist elastisch; man kann selbst aus einem Kanapee auferstehen. <«
»Die Franzosen kaufen seine Bücher trotzdem«, kommentierte Mara.
»Noch mehr als je zuvor. Mehr als ein so notorisch untreuer Mensch es verdient hätte.«
»Ich bitte Sie, Aurore«, meinte Balzac beschwichtigend.
Estes zog eine Braue hoch. »Und das von Ihnen, meine Teuerste?«
»Wollen Sie damit andeuten, ich sei untreu gewesen?«
Schweißperlen traten auf die Stirn des Italieners.
»Das würde mir nicht im Traum einfallen. Dennoch, man hört so manches ...«
»Männer sind wie Klatschweiber! Ich habe immer an die Treue geglaubt; ich habe sie gepredigt, praktiziert und gefordert. Andere sind diesem Ideal nicht gerecht geworden; ich auch nicht. Aber dennoch habe ich nie Reue verspürt, weil meine Fehltritte mir fast schicksalhaft erschienen, weil sie einem instinktiven Idealismus entsprachen, der mich dazu trieb, das Unvollkommene auf der Suche nach der Vollkommenheit hinter mir zu lassen.«
»Sie ehren nicht das Sakrament der Ehe?« fragte Mara, durch die Offenheit der Frau ermuntert.
»Kaum, da ich mich von einem Ehemann befreit habe, für den ich nicht mehr als eine Leibeigene war. Nein. Der gesunde Menschenverstand und schlichte Menschlichkeit gebieten, daß keine Frau gezwungen sein sollte, bei einem Mann zu bleiben, den sie verabscheut. Frauen sollten, wie Männer, frei sein, jenen zu lieben, den sie wollen. Aber es ist keine Liebe, sondern schlichte Lüsternheit, fröhlich von Haus zu Haus zu wandern, wie Victor das tut, drei verschiedene Frauen am gleichen Tag zu lieben und wahrscheinlich noch ein paar Schauspielerinnen dazu.«
»Zu seiner Verteidigung«, sagte Balzac, »sollte ich Sie an die berüchtigte Affäre seiner Frau mit Sainte-Beuve erinnern. Meiner Meinung nach hat er alle Illusionen über die Liebe verloren, als er das entdeckte.«
»Das ist keine Entschuldigung.«
»Aber ihm mit seinem giftigsten Literaturkritiker die Hörner aufzusetzen! Männer sehen über vieles hinweg, aber ein Betrug von solcher Größe wird weder vergessen noch vergeben.« Betrug. Das war kein angenehmes Thema für Mara. Sie hatte sich noch nicht auszudenken gewagt, was Roderic tun würde,
Weitere Kostenlose Bücher