Zigeunerstern: Roman (German Edition)
Aber Polarca neigte schon immer zu Unter- oder Übertreibungen.
Seit unserer letzten Begegnung hatte er sich einem Remake unterzogen, und ich brauchte eine Weile, um mich daran zu gewöhnen. Er hatte sich durchdringende dunkelblaue Augen mit hellroten Rändern zugelegt, seine Ohren waren dicker und länger als vorher und mit schwarzem Pelz bedeckt. Er wirkte befremdlich, doch er sah gesund aus und voller Feuer.
»Yakoub!«, schrie er. »Ach, Mann, ach du, Yakoub!«
»Polarca – bist du's wirklich?«
»Nein, du altersmürber Bettpisser, ich bin mein Alternativgespenst.«
Ich grinste ihn an. »Keine Schimpfwörter, du glitschiger Luftspuk.«
Er strahlte mir Wärme und Liebe entgegen. »Ich nenne dich, was ich will, du alte Fettkugel.«
»Schweinevergifter!«
»Oller Gajo-Einseifer!«
»Hühnerklau! Taschendieb!«
»Hach! O du mein Yakoub!«
»Polarca, mein alter Junge du!«
Wir lachten und fielen einander in die Arme und klatschten uns gegenseitig auf die Wangen. Wir packten uns an den Handgelenken, tanzten einen wildverrückten Galopp durch die Korridore und brüllten aus vollem Halse Lieder. Wir waren wirklich zwei grölende, vor Freude besoffene alte Fossilien, wir zwei, und mit mehr Leben im Herzen als beliebige fünfzig rotznäsige Jungen. Wir veranstalteten einen derartigen Krach, dass die Roboter angerückt kamen, um nachzusehen, was los sei. Sie betrachteten uns mit Bestürzung und Missbilligung. Vielleicht hatten sie ja gedacht, es sei ein Mordbube ins Haus geschlichen. Doch sie sind in ihrem Wesen eben Roma-Roboter; sobald sie begriffen, dass alles pure Freundschaft war, dass der Mann da bei mir mein phral war, mein Bruder, mein Polarca, entspannten sie sich.
Ich befahl, sie sollten uns eine Flasche von meinem kostbarsten und besten Brandy bringen, einen Laib Palmbaumbrot und Iriarte-Traüben. Und wir setzten uns zu Tisch, und er öffnete den Reisesack und holte die Geschenke hervor, die er für mich mitgebracht hatte. Polarca bringt stets Unmengen von Geschenken mit, und immer sind es Dinge, die du möglicherweise vor einem Jahr hättest brauchen können oder die du vielleicht im nächsten Jahr brauchen kannst, aber selten ist etwas dabei, was dir gerade im Augenblick rechtkommt. Diesmal brachte er ein Paar prachtvoller doppelschlitziger Luftschuhe, einen Schreiber mit Lupe, ein Halbdutzend Ceramo-Ohrspulen mit – und den ungekürzten Text der Selbstbetrachtungen des Marcus Aurelius, niedergeschrieben auf dem Eckzahn eines Sanguinosauriers. Ich dankte ihm höchst feierlich, wie ich es stets tue, wenn Polarca mich mit seinem überflüssigen Krimskrams überschüttet. Überdies aber hatte er noch etwas wirklich Brauchbares mitgebracht: eine dicke Scheibe windgetrocknetes Rindfleisch aus Clard Msat, eine Delikatesse, nach der ich in meinen Jahren auf Mulano ein heftiges ultraviolettes Verlangen gehegt hatte. O höchst vortrefflicher Polarca! Wie hatte er erraten, dass mich genau danach gelüstete?
Eine ganze Weile lang aßen und tranken wir schweigend. Der Brandy stammte von Ragnarök, war hundert Jahre alt und kostete achtzig Cerces pro Flasche. Man kann für weniger schon einen sehr guten Sklaven kaufen. Dann sprachen wir über seine Fahrten. Er leidet schon sein ganzes Leben lang an einem unheilbaren Wanderfieber. Kürzlich, berichtete er, sei er auf Estrilidis gewesen, in Tranganuthuka und in Sidri Akrak. Während der verflossenen sechs Monde war er sechsmal auf Geistreise zur Erde gegangen, und in kurzen Abständen vielleicht zwölfmal nach Mulano, um nach mir zu schauen, und dann noch zu einer Reihe anderer Orte … eine Streckenleistung, bei der einen Ochsen der Schlag getroffen haben würde. Im Herzen eines jeden Zigeuners brennt die Ruhelosigkeit, doch Polarca übertreibt das Ganze wie ein Besessener bis ins Extrem. Nachdem er mir alle Geschichten von seinen Fahrten erzählt hatte, versank er wieder in Schweigen, und wir aßen und tranken weiter.
Endlich sagte er: »Also bist du schließlich doch zurückgekommen.«
»Es könnte den Anschein haben.«
»An welchem Tag bist du gekommen?«
»An welchem Tag? «
»Der Tag im Monat.« Geduldig, als spräche er mit einem Kind.
»Ich glaube, es war der fünfte Phosphoros«, sagte ich darauf.
»Der fünfte? Gut!« Seine Augen glühten wild. »Dann habe ich nämlich von Valerian tausend Cerces gewonnen.«
»Wieso?«
»Eine Wette«, sagte Polarca beiläufig. »Dass du innerhalb von fünf Jahren wieder im Imperium zurück sein würdest. Die
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