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Zigeunerstern: Roman (German Edition)

Zigeunerstern: Roman (German Edition)

Titel: Zigeunerstern: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Robert Silverberg
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Kannibalismus gegeben hätte, und dass er als der höchstrangige Offizier unter den Überlebenden dies nicht nur geduldet, sondern sogar angeordnet und organisiert habe. Auch diese Anschuldigung wies er zurück.
    Und dann erfuhr ich, dass dieser Mann juristisch den Namen ›Shandor, Yakoubs Sohn‹ trug – und dass er auf Xamur geboren war. Ich war wie vor den Kopf geschlagen. Ich versuchte mich vor dieser Vorstellung ganz und gar zu drücken. Aber ›Shandor Yakoubs Sohn‹, das konnte einfach kein Zufall sein. Ich erinnerte mich an den wütenden rotgesichtigen Säugling, der mit Gebrüll in die Brust seiner Mutter biss. Ich nahm in unserer Roma-Regierung inzwischen eine sehr hohe Position ein (Cesaro o Nano wurde immer seniler und kränkelte, und man sprach von mir bereits als dem nächsten Zigeunerkönig, was ich allerdings stets abzuwiegeln versuchte), und so konnte ich wirklich nicht umhin, so schwer es mir auch fiel, und musste offiziell von dem Verhalten dieses Shandor Kenntnis nehmen, und nach einer Weile musste ich ihn auch offiziell als meinen Sohn anerkennen. Für mich bedeutete dies eine große Schmach; allerdings standen alle meine Freunde zu mir und halfen, als Shandor vor dem kris wegen der Verbrechen von Djebel Abdullah angeklagt wurde. Auch dann, als er für schuldig befunden und aus unserem Volk ausgestoßen wurde. Aber selbst darin gelang es ihm später, sich irgendwie der Straflast zu entziehen. Ich habe nicht die geringste Ahnung, wie er das schaffte. Wahrscheinlich setzte er seinen Charme ein. Oder ein paar üble böse Erpressungen. Ich wollte so wenig wie möglich mit ihm zu schaffen haben. Das galt umgekehrt auch für ihn mir gegenüber. Und das ist der einzige positive Zug an ihm, der für mich zu seinen Gunsten spricht. Er hielt sich jedenfalls betont von mir fern, als ich den Thron bestieg.
     
     
    9
     
    Der Kerker, in den mich Shandor werfen ließ, war in allem ganz das, was ich mir von ihm erwartet hätte. Ich hatte natürlich nicht vergessen, dass es diese Verliese gab, und es überraschte mich nicht im geringsten, dass er sie zu meinem Aufenthalt bestimmte. Es handelte sich um jene Art von Kerker, die man im Gefängnisbusiness als ›Oubliette‹ bezeichnet, ein Begriff, der aus dem geliebten vergangenen ›France‹ meines Julien de Gramont stammt und von dem verbum oublier abgeleitet ist, was ›vergessen‹ bedeutet. Also ist die Oubliette demzufolge ein Loch, in das man einen Gefangenen wirft, den man dem Vergessen zu überantworten gedenkt.
    Diese spezielle Oubliette befand sich sechs oder sieben Stockwerke unter dem Erdboden und lag tief in den dunklen Eingeweiden des Königlichen Hauses der Macht. Zu den architektonischen Sehenswürdigkeiten des Gebäudes gehörten die Verliese nicht gerade, und man führte sie auch nicht bei Besichtigungstouren vor. Ich selbst war bereits zehn oder zwanzig Jahre lang König gewesen, bevor ich eines Tages auf sie stieß, als ich in den unteren Etagen herumwanderte, um einen bestimmten Archivraum zu suchen. Aber schließlich drückt ja schon der Name Oubliette aus, dass hier Augenfälligkeit tunlichst vermieden werden soll.
    Ihr werdet euch jetzt vielleicht fragen, wie es möglich sein konnte, da doch dieses ganze Konzept von Kerker und Oublietten so höllenscheußlich rückständig und mittelalterlich klingt, dass derart fortschrittliche Leute wie wir modernen High-tech-Roma, wir Sternenschiffsnavigatoren, derlei in unserem königlichen Hauptquartier beibehalten haben. Meine erste Antwort ist, dass ich das nicht weiß; die zweite Antwort wäre: Wir sind vielleicht eben doch nicht so modern, so up-to-date, so High-tech, wie einige unter uns das gern vorgeben möchten. Im Grunde sind wir wirklich eher ›mittelalterliche‹ Menschen, wenn man die Sache ganz genau untersucht. Wir leben gemäß den verrücktesten Tausende von Jahren alten Traditionen. Wir sind in einer Stammesstruktur verhaftet. Wir leisten uns noch Könige. Wir praktizieren Zauberei. Wir sprechen uralte Gebete in einer uralten Sprache. Wir singen und schreien laut, wenn etwas uns ans Herz rührt, und wir sind nicht zu gehemmt, um auf dem Tisch zu tanzen, wie dies bei Stammesfesten unsere gute alte unverklemmte Art ist. Wir glauben an Wertbegriffe wie Pflicht und Familie und die Heiligkeit und Unverletzbarkeit des Eides. Wir sind Menschen mit einem glühenden Loyalitätsgefühl und zu starken Leidenschaften fähig. Kurz: Wir sind reinstes Mittelalter, grandiose Relikte des

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