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Zigeunerstern: Roman (German Edition)

Zigeunerstern: Roman (German Edition)

Titel: Zigeunerstern: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Robert Silverberg
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deine Zähne schnattern lässt, die bewirkt, dass sich deine Hoden zusammenziehen und dass dir der Harn in der Blase zu Eis gefriert. Diese Angst ist der Klebstoff, der den Kosmos zusammenhält. Die Grundsubstanz, das universale Grundgewebe. Überwinde sie, aber auf dein eigenes Risiko; denn wenn du es tust, treibst du einen Keil zwischen Atom und Atom, und das Universum beginnt zu zerbröckeln. Trotzdem kämpfe ich dagegen an. Ich werde mich nicht vom Entsetzen überwältigen lassen. Ich kämpfe, ich kämpfe gut, und ich wehre die Angst ab, dränge sie zurück; ich hämmere sie zu Boden; ich trample auf ihr herum, ich zerdrücke sie, ich vernichte sie. Ich befinde mich auf Mentiroso – und ich fürchte mich nicht. Und in diesem ersten Augenblick ohne Angst erkenne ich die dünne schwarze Linie, den ersten schmalen Riss im Fundament der Welten. Das habe ich getan, ich, Yakoub Nirano, ich habe den ersten Keil vorgetrieben, und jetzt weitet sich der Spalt, jetzt klafft er auf, jetzt ist es ein breiter dunkler nach außen reichender Abgrund, der alles in sich hineinschlingt, was ihn berührt … Ich werde vom Orkan des Chaos fortgerissen.
     
     
    5
     
    Megalo Kastro – Duud Shabeel – Alta Hannalanna – Trinigalee Chase –
    Vietoris, Mount Salvat, ich stehe an der Seite meines riesenhaften Vaters, Romano Nirano –
    Megalo Kastro –
    Alta Hannalanna –
    Xamur – Galgala – Erde – Erde – Erde –
    Mulano –
    Alta Hannalanna –
    Erde – Erde – Erde –
    Wirbelnd, wirbelnd, taumelnd – hilflos – ohnmächtig.
     
     
    6
     
    Der Winter neigt sich dem Ende zu. Aus dem Süden haben die warmen Winde zu wehen begonnen. Bald werden die Roma wieder aufbrechen und durch die Lande ziehen. Grüne Weiden, Felder mit Hafer und Gerste liegen vor ihnen. Frische klare Bergquellen. Pferdehufe stampfen über die vom geschmolzenen Schnee noch feuchten Straßen, die Wagenräder rattern, die trunkenmachende Freude der Bewegung, frische Luft, die Neugeburt des Lebens.
    Wir stoßen weiter unten auf der Straße auf das Lager unserer Gevattern. Wir kennen sie nicht, aber sie sind unsere Verwandten. Sechzig Feuer lodern in dieser Nacht. Überall weht der Duft von bratendem Fleisch. Es ist ein prachtvoller Patshiv, ein Fest der Feste, denn hier treffen sich zwei kumpanias auf der großen Landstraße der Welt. Unsere Männer sitzen jetzt am Feuer und singen und bringen Trinksprüche aus auf unsere Vettern, unsere Gastgeber. Sie singen alte Lieder, wie die Großeltern der Großeltern sie sangen, Lieder über Fahrten und Wanderschaften in uralter Zeit.
    Ein Mädchen tritt vor, sehr dunkel, sehr jung. Die Lider sind geschlossen; vielleicht ist sie in Trance. Sie singt, und ein Junge, kaum ein Jahr älter als sie, tritt heran und stellt sich vor sie hin: Er ist in ihre Trance eingetreten. Als ihr Gesang endet, beginnt er um sie herumzutanzen, seine Füße klatschen fast zornig auf den Boden, aber in ihm ist keine Wut, nur überschwängliche Lust. Sein Körper schnellt wie eine Peitschenschnur, doch die Arme und Schultern bleiben fast bewegungslos. Er singt das Mädchen an. Sie lacht. Sein Gesang ist zu Ende, und er steht da und starrt sie an, sagt aber nichts. Ein scheues Lächeln fliegt zwischen den beiden hin und her, sonst nichts. Und dann trennen sie sich, sie geht zu ihrer kumpania, er zu der seinen, aber vielleicht findet er sie wieder, ehe die Nacht vorbei ist.
    Rinderbraten, Huhn, Spanferkel. Jetzt tanzt ein alter Großvater; er klatscht sich auf die Knie, lässt die Stiefelabsätze knallen, rascher und rascher, Hände klatschen, Arme schwingen. Und jetzt die Jungen, und jetzt die Männer; und dann alle zusammen, zuerst im Kreis, dann in einer langen ovalen Schleife, dann ganz ohne Muster, denn nun sind es zu viele, als dass die Form bewahrt werden könnte.
    Ach, das ist das wahre Leben! Das Leben unterwegs!
    Jetzt bellen Hunde. Plötzlich aufgeregte Schreckensrufe aus der Dunkelheit am Rande des Lagers. Schreie, ein Schuss, ein zweiter. »Plattfüße!«, ruft jemand. »Bullen! Bullen!« Aber sie kommen auf Pferden geritten, sie kommen, um uns zu verjagen. Was haben wir verbrochen? Wir lagern doch nur hier und feiern ein Fest mit unseren Vettern, und wir singen und tanzen. Vielleicht ist es an diesem Ort verboten, zu singen und zu tanzen. »Die Plattfüße! Plattfüße!« Pferde. Polizeihunde. Warnschüsse in die Luft. Männer brüllen zornig, fluchen, spucken aus. Was haben wir verbrochen? Es muss das Singen gewesen sein.

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